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Ethische Dilemmasituationen in der Spitex im Zusammenhang mit Demenz (2)

Text: Beatrice Widmer (Link zu Teil 1)

Teil 2: Spitex-spezifische Problembereiche im Umgang mit Menschen mit Demenz

Hilfe zur Selbsthilfe ist nicht gleich Hilfe zur Selbsthilfe

Das Spitex-Leitmotto «Hilfe zur Selbsthilfe» entspricht der ressourcenorientierte Pflege. Im Umgang mit Menschen mit Demenz ist nicht ausschliesslich eine aktivierende Pflege, sondern vielmehr eine reaktivierende Pflege gefragt. Dabei soll erkannt werden, was einmal aktiv und gut funktioniert hat. Durch gezielte Impulse von aussen wird bei den Betroffenen eine Eigenaktivierung von Können und Wissen hervorgerufen.

Grundsätzlich ist im Umgang mit Demenzbetroffenen das Wahrnehmen, Beobachten und Analysieren von stetig wechselnden Befindlichkeiten, Ressourcen und Defiziten unabdingbar. Auf die psychischen Grundbedürfnisse des Gegenübers soll laufend eingegangen werden. Aufgrund der neurokognitiven Störungen von Betroffenen ist eine gezielte Befragung durch die Mitarbeitenden bezüglich der Biografie und Lebensgewohnheiten nur bedingt möglich. Das sind gleichermassen spannende, aber auch zeitraubende Herausforderungen, denen sich die Mitarbeitenden stellen müssen. Dies soll von den professionell Betreuenden als Kernaufgabe betrachtet werden.

Eine Sensibilisierung auf die veränderten Kernaufgaben soll in den Teams entwickelt oder erweitert werden. Im Umgang mit Demenzbetroffenen haben reflektierte Beobachtungen einen sehr hohen Stellenwert. Individuelle Wertvorstellungen, sicherheitsvermittelnde Alltagsrituale in Form von Gewohnheiten und die Berücksichtigung der Biografie müssen laufend erfasst und im Handlungsablauf miteinbezogen werden. Eine konstante Personalbesetzung und flexible Einsatzpläne (zeitlich nicht fixiert) wären dazu hilfreich.

Stolpersteine bei der Angehörigenarbeit

Menschen mit Demenz brauchen Bezugspersonen, die sich in verschiedenster Weise um sie kümmern. Häufig übernehmen Angehörige diese Rolle. Viele leisten direkte Unterstützung im Alltag. Andere leben in grosser räumlicher Distanz und bieten Unterstützung in Form von Organisations- und Koordinationsaufgaben. Ohne diesen wertvollen Beitrag wäre ein Verbleib zu Hause für viele Betroffenen nicht möglich. Es ist notwendig, dass sich professionelle Helfende grundsätzlich immer empathisch mit der Rolle von Angehörigen auseinandersetzen sollen.

Rollenumkehrung
Angehörige sind für die Spitex-Mitarbeitenden «Informationsquellen» und wichtige Partner. Im Weiteren gilt es zu bedenken, dass sie durch die Persönlichkeitsveränderungen des Gegenübers auch zahlreiche sehr schmerzvolle Verlusterlebnisse bewältigen müssen. Eine Demenz bedeutet: Abschied nehmen auf Raten. Denn kein Tag ist wie der andere, was heute ist, ist morgen vielleicht nicht mehr. So fragt sich zum Beispiel eine Tochter: «Wann werde ich das erste Mal nicht mehr erkannt von meiner eigenen Mutter?». Dieser Gedanke ist sehr schmerzlich und wird irgendwann zur Realität.

Schwierig ist auch, dass beispielsweise Eltern und Kinder durch eine demenzielle Entwicklung und wachsende Bedürftigkeit eine Rollenumkehrung erleben. Die Mutter hat eine lange Zeit ihre Tochter umsorgt, in deren Kindheit wichtige Entscheidungen getroffen, sie fürsorglich begleitet, ein halbes Leben lang. Und nun kann sie nicht mehr für sich selber sorgen. Die Tochter muss das übernehmen und sich dazu überwinden, gewichtige Entscheidungen für die Mutter zu treffen, die schmerzlich sein können für beide.

Diese Rollenumkehrung bereitet verständlicherweise vielen Angehörigen Mühe und kann auch überforden. Von professionellen Helfenden wird dieser Tatsache bisweilen zu wenig Rechnung getragen.

Auftragsenttäuschung
Oft organisieren Angehörige nach Absprache mit dem Hausarzt die Spitex. Sie haben klare Vorstellungen betreffend den Einsatzschwerpunkten und deklarieren diese bei der Bedarfserhebung. Den Wunsch, die Spitex beizuziehen und der daraus resultierende Auftrag stammt also von Angehörigen und nicht direkt von den Leistungsbeziehenden. Dies ist keine gute Voraussetzung für die Zusammenarbeit mit den an Demenz erkrankten Menschen und führt häufig zur Auftragsenttäuschung bei mindestens einer Partei.

Die Auftragsklärung seitens Spitex soll gemeinsam mit Angehörigen und Klienten erfolgen. Dabei müssen die Erwartungen (was erhoffen sich beide durch unsere Tätigkeit?) aller Involvierten geklärt werden. Ferner soll die Situation regelmässig gemeinsam evaluiert werden. Auch vorausschauende Fragestellungen, selbst wenn sie tabubehaftet erscheinen, müssen seitens Spitex thematisiert werden.

Innerfamiliäre Beziehungsmuster
Innerfamiliäre Anspannungen, gar Konfliktsituationen sind leider nicht selten. Problematische Beziehungsmuster verändern sich aufgrund von Erkrankungen nur bedingt, denn sie sind über Jahre gewachsen. Die Gründe dafür sind vielschichtig und bleiben den Mitarbeitenden oft lange oder für immer verborgen. Gerade unterschiedliche innerfamiliäre Auffassungen zur gesundheitlichen Verfassung der betroffenen Person können Hinweise zu problematischen Beziehungsmustern sein. In solchen Situationen ist die Spitex mit abweichenden Meinungen bezüglich Betreuungsform und Umfang der Begleitung konfrontiert.

In solchen Situationen sind hohe Kommunikationskompetenzen und Durchsetzungsvermögen im Sinne der Betroffenen erforderlich. Hilfreich für das Team sind da sicherlich auch gut strukturierte Fallbearbeitungen, bei denen die Mitarbeitenden in ihrer Rolle gestärkt werden können. Grundsätzlich gilt: Angehörige haben das Recht auf Akzeptanz und Wohlwollen. Sie sind von pflegerisch-ethischen Grundprinzipien nicht ausgeschlossen. Das Wohlwollen und die Fürsorge gegenüber an Demenz erkrankten Klientinnen und Klienten haben jedoch Priorität.

Schlussbetrachtungen
Bei der häuslichen Betreuung von Menschen mit Demenz besteht noch vielschichtiger Handlungsbedarf. So sind ganz klar Massnahmen notwendig, um dem gegenwärtigen Kostenübernahmedruck entgegenzuwirken. Insbesondere sollen durch die Spitex-Organisationen geleistete Betreuungs-, Beratungs-, und Kommunikationsleistungen vollumfänglich als Pflegeleistungen anerkannt werden. Denn sie sind tragende Elemente für die Kontaktaufnahme, den Beziehungs- und Vertrauensaufbau zu Betroffenen und deren Angehörige.

Im Weiteren könnten strukturelle Anpassungen innerhalb der Spitex-Organisationen sinngebend sein. Dabei sollten Ressourcen geschaffen werden, um sich im Umgang mit Menschen mit Demenz weiter zu professionalisieren. Eine Möglichkeit hierzu ist die Schaffung von «Spitex-Demenz-Care-Teams», bestehend aus Mitarbeitenden aller drei Spitex-Kerndienste. Diese Idee ist auch für kleinere und mittlere Spitex-Organisationen zu prüfen, denn es ist durchaus denkbar, dass spezialisierte Mitarbeitende innerhalb einer grösseren geografischen Region tätig sein könnten.

Ein personell konstantes Team im Einsatz bei Menschen mit Demenz ist von grosser Bedeutung, und zwar für alle Beteiligten. Bei spezifizierten Teams wird dem Rechnung getragen. Diese Mitarbeitenden benötigen ein breit gefächertes, auf ihre Handlungskompetenzen zugeschnittenes Fachwissen sowie gesonderte Austauschgefässe. Die Etablierung von erweiterten Auftragsverständnissen in solchen Teams sollte ein Muss sein. Auch gemeinsame Haltungsgrundsätze und Handlungsstrategien, bezogen auf wichtige Alltagsrituale für die Betroffenen, können so wirkungsvoll umgesetzt werden.

Einer Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen Spitex-Organisationen und ergänzenden Diensten, wie Memory- und Tageskliniken ist in vieler Hinsicht von grossem Nutzen. Fachliches Know-how kann gebündelt und untereinander ausgetauscht werden. Betroffene und Angehörige bekommen so rechtzeitig kompetente Hilfe und Entlastung. Dies entspricht den Handlungsfeldern 1, 2 und 4 (aufgeführte Zielsetzungen und Wertehaltungen) der Nationalen Demenzstrategie 2014–2017.

Das SGZ bietet zu diesem Thema fundierte Demenz-Fortbildungen für die Spitex-Mitarbeitenden an. Detaillierte Informationen dazu finden Sie unter:

 

Beatrice Widmer
Schulungszentrum Gesundheit SGZ
Programmleiterin Bildung
beatrice.widmer@zuerich.ch
angebot.wissen-pflege-bildung.ch

 

 

Kommentare: 2 | Autor: SGZ | Kategorien: Kategorie Arbeitsfeld Spitex

Kommentare zum Artikel

  1. Diener Karl Kommentar vom 01.04.2016

    Besten Dank für den Artikel. Möchte einfach anfügen, dass ich der Meinung bin, dass “Spitex-Dienste” ihre Grenzen kennen sollten. Das “Krankheitsbild Demenz” erfordert unter Umständen eine “Rund um die Uhr” Betreuung, mit, wenn möglich konstanten gleichen Personen.. Die Spitex-Dienste in der Schweiz können einen solchen Dienst (Verständlicherweise)nicht anbieten.

    • Beatrice Widmer Kommentar vom 05.04.2016

      Herzlichen Dank für Ihre Rückmeldung zum Artikel. Selbstverständlich wird bei einer stark fortschreitenden Demenz eine Betreuung rund um die Uhr notwendig. Dies ist sowohl in einer Institution der Langzeitpflege möglich, aber auch zu Hause – Dank der wertvollen Unterstützung von lokalen Spitex – Organisation.

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