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Die Ausbildung als Lebensmittelpunkt oder als ein Stressfaktor von vielen?

Text: Samuel Keller

Entwicklungsaufgaben von jugendlichen Lernenden in Gesundheitsberufen

Viele jugendliche Lernende erleben deutlich mehr Stress und Unsicherheit, als sich auf den ersten Blick erkennen liesse. Fast immer haben diese Stressfaktoren auch mit der Ausbildungssituation zu tun – allerdings nie ausschliesslich. Gerade deshalb ist es wichtig, dass man als Ausbildner-/in nie voreilig (ver)urteilt, sondern Raum schafft für ein verstehendes Lernen.

Fabienne (16) drückt sich

Fabienne [1] (16) hat ihre Lehre als Fachfrau Gesundheit in einem Alters- und Pflegeheim vor zwei Monaten begonnen. Wie viele junge Lernende in der Anfangszeit verhält sie sich zurückhaltend bis schüchtern, bringt ihre Sichtweise wenig in den Arbeitsalltag ein, führt aber sorgfältig alles aus, was ihr auferlegt wird – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Entsprechend gab es auch noch wenig Gelegenheit für vertrauensvolle Austausche zwischen ihrer Berufsbildnerin und ihr. Eine von verschiedenen Verhaltensregeln für alle Mitarbeitenden verbietet die Nutzung des privaten Handys während der Arbeitszeit. Der Berufsbildnerin von Fabienne fällt nun jedoch auf, dass Fabienne seit geraumer Zeit häufig – manchmal dreimal stündlich – auf die Toilette geht. Deshalb bespricht sie diese Situation mit der Leitung der Abteilung sowie mit der Leitung Ausbildung. Für sie alle steht fest, dass Fabienne damit etwas dreist, aber auch etwas ungeschickt versucht die Handy-Regel zu umgehen. Deshalb wird sie für die nächste gemeinsame Sitzung vorgeladen, in dem ihr die drei Fachpersonen einen Eintrag fürs Probezeitgespräch sowie den Einzug des Handys zu Arbeitszeitbeginn unterbreiten.

Fabienne nimmt das alles erstmal ohne emotionale Regung zur Kenntnis, was die Beteiligten darin bestätigt, mit ihrem Verdacht richtig gelegen zu haben. Die Berufsbildnerin bemerkt in den darauffolgenden Tagen bei ihr aber eine zunehmende Nervosität und Bedrücktheit, bis sie sie in der Pause mit zwei Tassen Kaffee alleine zur Seite nimmt und sich nach ihrem Befinden erkundet. Im darauf folgenden persönlichen Gespräch in informeller Atmosphäre erklärt Fabienne unter Tränen, dass sie sich jeweils dann auf die Toilette begeben habe, wann von ihr möglicherweise eine Intimwäsche hätte verlangt werden können. Sie habe davor aus für sie unerklärlichen bzw. nicht benennbaren Gründen plötzlich Panik gehabt, traute sich aber nicht, dies mit jemandem zu besprechen.

Missverständnisse, Überforderung und Pubertät

Dieser Fall macht deutlich, dass die jeweilige Wirklichkeit von jedem Individuum durch seine Art und Weise der Wahrnehmung, seine Erwartungen und sein subjektives Bewusstsein selbst mitgestaltet wird. Es gibt somit keine allgemeingültige, objektive Wirklichkeit, auch wenn drei Personen in Leitungsfunktion für sich eine solche definieren. Vielmehr wird sie von ihnen als Empfängerinnen auch mit erzeugt. Dass der Empfänger die Botschaft bestimmt, ist für die Arbeitsbeziehung Lehrende-Lernende deshalb nicht unbedeutend, weil die Berufsbildner/-innen aufgrund ihrer Rolle mehr Macht über die Herstellung von Wirklichkeiten haben und dabei oft die Beteiligung der Lernenden vergessen; dasselbe gilt dann auch für das Sprechen der Konsequenzen (Beiziehen anderer Fachpersonen, Bestimmen über Konsequenzen, Probezeit- und Arbeitsbeurteilungen).

Hinzu kommt, dass Fabienne nicht nur ein lernendes Objekt in einem luftleeren Raum ist. Sie ist vielmehr eine 16-jährige junge Frau, die sich nebst dem Entwicklungsschritt ins Berufsleben mit einer unübersichtlich grossen Anzahl weiterer Entwicklungsaufgaben konfrontiert sieht. Im dicht getakteten und hierarchisch organisierten Arbeitsalltag der Gesundheitsberufe kann schnell übersehen werden, dass parallel zu den Entwicklungen ins Berufsleben auch noch ein weiterer Komplex an kognitiven, sozialen und physischen Entwicklungsaufgaben anstehen, ja sogar mit ins Berufsleben getragen und da Einfluss auf die Bewältigung anderer Aufgaben haben können.

In Bezug auf das Jugendalter, in dem sich Fabienne mit ihren 16 Jahren befindet, wird oft von Pubertät gesprochen, was die körperlichen Veränderungen und Entwicklungen bezeichnet. Mit der Adoleszenz hingegen sind die psychosozialen Veränderungen und Entwicklungsschritte umschrieben. Entsprechend tritt in diesem Lebensabschnitt eine Vielzahl von Herausforderungen und Ansprüche an die Jugendlichen heran. Wichtig ist zu erwähnen und auch zu erkennen, dass die meisten Jugendlichen diese erhöhten Anforderungen relativ gut bewältigen. Mit dem Beginn einer Ausbildung in einem Gesundheitsberuf werden allerdings sensible und verunsichernde Entwicklungsaufgaben, in welchen Jugendliche sich gerade befinden, in alltäglichen Situationen oft zusätzlich beladen. Insbesondere bisher ungekannte Konfrontationen mit Intimität, Körperlichkeit und körperlichem Abbau beim Waschen, oder mit Vergänglichkeit und Tod bei der Begleitung von Sterbenden können unaussprechbare Zusatzaufgaben darstellen und die jugendlichen Lernenden überfordern. Zur Überforderung trägt auch bei, dass Jugendlichen oft ein konsistentes Selbst- sowie ein positives Selbstvertrauen fehlt und in einigen Hirnregionen nachweislich über 50 % der neuronalen Verbindungen verloren gehen und sich neue Verknüpfungen bilden. Das führt häufig zu einem aus Sicht der Erwachsenen unangemessenem Umgang mit Unsicherheit.

Ohne gegenseitiges Verstehen findet kein Lernen statt

Die Voraussetzungen zur angemessenen bzw. erfolgreichen oder produktiven Bewältigung von Entwicklungsaufgaben sind in der Berufsausbildung und im individuellen Erwachsenwerden dieselben: Besitzt der/die Jugendliche genügend persönliche (sozio-kognitive Kompetenzen und Ich-Stärke) und soziale (elterliches Stützsystem, soziale Einbettung in ausserfamiliäre Bezugsnetze wie Gleichaltrige oder auch Bezugspersonen auf der Arbeit) Ressourcen, unterstützen diese die Bewältigung anstehender Aufgaben massgeblich. Erfolgreiche Bewältigung wiederum führt zu sozialen Erfolgen und Leistungserfolgen, die die Bewältigung weiterer Aufgaben zusätzlich erleichtern. Fehlen Ressourcen bspw. aufgrund konfliktiver Loslösung vom Elternhaus oder müdigkeitsbedingt geringer kognitiver Kompetenzen aufgrund häufigen Ausgangs mit Gleichaltrigen, kann die Bewältigung misslingen. Dadurch entfällt dann auch die gerade in der unsicheren Ich-Phase des Jugendalters oft so wichtige Anerkennung. Handelt es sich wie beim Beispiel von Fabienne um die Aufgabe, die eigenen Intimität und die Intimität alter Menschen kennenzulernen, benennen zu können und voneinander abzugrenzen, muss die Berufsbildnerin diese vor allem erkennen. Gelingt dies, kann eine Unterstützung leicht angeboten werden. Bei grösseren Themen wie Krisen oder fehlenden Ressourcen im Elternhaus, psychischer Labilität oder problematischem Umgang mit Genussmitteln müssen Fachpersonen entsprechender Informations- und Beratungsstellen[2] zumindest zur Beratung der eigenen Handlungsmöglichkeiten als Ausbildner/-in genug früh beigezogen werden – im Sinne einer Triage, dank der insbesondere auch eigene Verantwortungsbereich geschärft werden kann.

Am Beginn steht jedoch immer das Erkennen/erkennen Wollen der Wirklichkeiten der Lernenden, ohne dass voreilig subjektive Schlüsse gezogen werden. Die spezielle Situation der Jugendlichen in Ausbildung zu Gesundheitsberufen ernsthaft verstehen zu wollen bedingt Zeit für Gespräche, sich für die unterschiedlichen, mit einander verknüpften Entwicklungsaufgaben und deren positive Bewältigung zu interessieren (nicht nur mit Lob abtun), hierfür klare Verhaltens- und Spielregeln einzuführen und einzuhalten, Diskutierbares zu diskutieren und gemeinsam entscheiden, nicht Diskutierbares zu begründen und stets Interesse, Wertschätzung und Verständnis für die Sichtweise des Gegenübers zu haben. Es mag aus der Ferne vielleicht banal erscheinen, doch wird es im Arbeitsalltag oft vergessen: Wenn man wie bei Fabienne vergisst, die jeweiligen Arbeitssituation auch aus deren Sicht nachzuzeichnen, entstehen Misstrauen, Intransparenz und Missverständnisse. Dabei ermöglicht nur das Gegenteil – Vertrauen, Transparenz und Verständnis – eine Lernsituation, in der aus Interesse an Inhalten gelernt, anstatt aus Furcht vor Konsequenzen gehorcht und ausgeführt wird. Das Verstehen der Situation bedeutet dabei keines Falls, dass alles stets überinterpretiert und -psychologisiert oder jegliches Verhalten akzeptiert würde. Doch nur wenn man versteht, lassen sich Regeln für alle nachvollziehbar definieren und gezielter umsetzen, und nur darin entsteht ein tatsächliches Lernklima. Hätte Fabiennes Ausbildnerin sie nach dem folgereichen Gespräch bereits als dreiste Handynutzerin abgestempelt, wäre die für Fabienne hoch sensible Lernsituation «Intimwäsche» nie entstanden.

Samuel Keller

  • Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der ZHAW
    mit den Arbeits- und Forschungsschwerpunkten: Familien und Sozialpädagogik/Soziale Arbeit, Kinder- und Jugendhilfe: Heimwesen, Pflegefamilien und Adoption, Bedingungen des Aufwachsens und Konzepte des kindlichen Wohls; Kindheitsforschung, Bedingungen des Strafvollzugs
  • Fachdozent in den Berufsbildner-/innen-Kursen am SGZ mit dem Thema «Umgang mit Lernenden: Entwicklung und Sozialisation, Umgang mit altersspezifischen Themen»

 

[1] Name ist frei erfunden. Die Geschichte basiert auf verschiedenen, realen Schilderungen von Ausbildnerinnen und Ausbildnern im Hinblick auf ihren Arbeitsalltag, aber auch im Rückblick auf ihre eigene Erstausbildung.

[2] Bspw. www.stadt-zuerich.ch/jugendliche

Kommentare: 1 | Autor: SGZ | Kategorien: Kategorie Ausbildner/-innen

Kommentare zum Artikel

  1. Patricia Kommentar vom 11.12.2015

    Vielen Dank für diesen interessanten Artikel, der gerade für mich in meiner noch eher neuen Rolle als Berufsbildnerin (zwar im KV, aber im Grundsatz geht’s ja ums Gleiche) hochspannend ist!

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