Fr. 16.03.18Buurtzorg – Eine Idee macht Furore
Text: Lucia Zimmermann
Buurtzorg ist eine holländische Spitex-Organisation, die seit 2006 besteht und die mittlerweile über 9000 Pflegekräfte beschäftigt. Diese arbeiten in Teams von zehn bis zwölf Mitarbeitenden ohne Teamleitung und ohne übergeordnetes Management. Keine Hierarchien, nur eine Firmenzentrale mit 28 Mitarbeitenden, die Back-Office-Service machen.
Selbstorganisation und selbststeuernde Teams
Mit dem Buch Reinventing Organizations, das vor drei Jahren auch auf Deutsch erschienen ist, hat Frederic Laloux diese und andere Organisationen, die auf Selbstorganisation und selbststeuernde Teams setzen, weltweit bekannt gemacht. Die Teams in Buurtzorg organisieren und steuern sich selber, verteilen alle anfallenden Aufgaben, auch Dienst- und Ferienplanung unter sich auf und funktionieren anscheinend gut. So gut, dass sich jeden Monat viele Pflegende dort bewerben, die auch so arbeiten wollen. Buurtzorg ist ein Erfolgsmodell mit guter Pflege, zufriedenen Kunden und auch wirtschaftlich stimmt die Bilanz. Sie ist sogar noch besser als in traditionell-hierarchisch organisierten Spitex-Organisationen.
Kann das funktionieren?
Kein Wunder greift die Idee um sich. Es gibt Pilotprojekte auch in der Schweiz. Aber kann denn das funktionieren? Geht es auch ohne Hierarchie? Lässt sich das Modell auch in anderen Organisationen des Gesundheitswesens anwenden?
Ich persönlich finde den Gedanken schon ziemlich herausfordernd. Und wenn ich mit anderen darüber spreche, treffe ich auf die selbe Mischung aus Faszination und grosser Skepsis. Wobei die Faszination überwiegt und viele Gesprächspartner/-innen einen sehnsüchtigen Tonfall bekommen, wenn sie sich ausmalen, was das heissen könnte.
Faszination der Selbstorganisation
Eigentlich kann ich mir schon vorstellen, dass Pflegeteams sich selber organisieren. Sie machen das ja in vielen Bereichen ihrer Arbeit schon. Pflegende sind ausgebildet, um selbstverantwortlich im Team zu arbeiten. Dem entsprechend formulieren viele Teamleitende in der Pflege ein sehr partizipatives Führungsverständnis. Sie wollen ihre Mitarbeitenden in wichtige Entscheidungen einbeziehen. Mit ihrem Team gemeinsam auf den Weg gehen. Sie verstehen sich als Koordinator/-in oder Moderator/-in, vielleicht sogar als Coach. So weit so gut.
Was ihnen oft im Weg steht, sind die Anforderungen, die von oben, aus der Höhe der hierarchischen Pyramiden an sie gestellt werden. Sie müssen mit ihren Teams umsetzen, was weit weg entschieden wurde. Die Organisationen im Gesundheitswesen werden immer grösser und die Steuerung geht immer weiter weg von der Basis. Die Wege gehen über immer mehr Stufen sowohl von oben nach unten wie auch umgekehrt.
Und genau da fängt die Faszination von Buurtzorg wieder an. Wäre das denn möglich? Das in den Teams, bei den Patienten, Klienten, Bewohnern noch mehr Entscheidungen getroffen werden? Wie viel Verantwortung können Teams selbst übernehmen? Und unter uns gefragt: Wem gibt man dann die Schuld, wenn etwas nicht passt? Über wen schimpft man dann, wenn nicht mehr über die Chefin oder den Chef? Aber Buurtzorg und andere Organisationen scheinen zu beweisen, dass Teams mit adäquaten Entscheidungsverfahren viel besser geeignet sind, auf die Komplexität und Schnelllebigkeit der Umwelt zu reagieren als zentrale, hierarchische Gebilde, die wie Ozeandampfer zwar gross und mächtig sind, sich nur schwerfällig steuern lassen.
Braucht es noch Teamleiter/-innen?
Als Anbieterin eines Teamleiterlehrganges müsste ich vor diesem Hintergrund eigentlich unseren Lehrgang zweifeln. Braucht es denn noch Teamleiterinnen? Natürlich zweifle ich nicht, denn ich weiss, dass es in Gruppen und Teams immer um die zentralen Themen Macht / Einfluss, Zugehörigkeit und Nähe / Distanz geht. Führung braucht es auch in der Selbststeuerung, sie wird nur weniger formell geregelt. Sie wird vielmehr ausgehandelt. Es gibt Mitarbeitende, die übernehmen gerne Führung und Verantwortung und andere, die lassen sich gerne mitnehmen und führen. Das wird auch in Buurtzorg so sein. Leadership wird einfach auf mehr Köpfe verteilt. Es wird nicht einfach sein und vermutlich auch nicht zielführend, dieses Modell, das in Holland als Basisbewegung entstanden und gewachsen ist, 1:1 in die Schweiz zu übertragen. Und schon gar nicht lässt es sich einfach verordnen. Aber inspirieren lassen wollen wir uns schon.
Selbststeuerung trainieren – Persönlichkeit entwickeln
Der Gedanke der Selbststeuerung ist faszinierend und passt in unser Lehrgangskonzept mit gruppendynamischen Trainings. Dort lernen die Teilnehmenden selbstverantwortlich in der Gruppe zu wirken, sie erfahren und reflektieren die Dynamiken, die in Gruppen spielen, erfahren Selbststeuerung und entwickeln ihre Persönlichkeit weiter, um an den Organisationen der Zukunft aktiv mitzugestalten. Ob sie das in einer formellen Teamleiterfunktion tun, spielt eigentlich eine untergeordnete Rolle.
Ich bin gespannt, wohin die Entwicklungen führen. Was denken Sie darüber? Lassen Sie uns ins Gespräch kommen.
Lucia Zimmerman
Schulungszentrum Gesundheit SGZ
Programmleiterin Bildung
lucia.zimmermann@zuerich.ch
angebot.wissen-pflege-bildung.ch
Kompliment zu diesem Blogbeitrag!
Die Frage, wieviel „Verordnung“ von Selbststeuerung macht Sinn? Finde ich als Organisationsberaterin und Coach von Führungspersonen wesentlich. Aus meiner Erfahrung kann Selbststeuerung erlernt werden, dieser Lernprozess braucht jedoch Zeit und Zuwendung.
Danke fürs Kompliment.
Ich glaube tatsächlich, dass Verordnung und Übertragung von bestehenden Konzepten eigentlich im Widerspruch zu eigentlichen Selbststeuerung stehen. Mit einer Grundhaltung von Offenheit und Geduld (Zeit und Zuwendung) können Organisationen aber vielleicht auch so eine spannende Entwicklung in Gang bringen.
Nicht alles wird auf Anhieb gelingen, aber alle ernsthaften und inspirierten Versuche werden etwas in Bewegung bringen und zur Veränderung beitragen.
Der Gedanke ist faszinierend. Ich habe einmal einem mit einem Team in diese Richtung gearbeitet. Es scheiterte zuletzt an den Mitarbeitern selbst, wie auch an den obersten Instanzen. Es braucht Offenheit, Ehrlichkeit und Mut der einzelnen Mitglieder.
Zu Beginn ist ein regelmässiges Coaching mit dem Team unerlässlich. Wichtig ist, dass das von allen mitgetragen wird. Der Weg ist herausfordernd für alle Beteiligten und braucht Zeit. Wer übernimmt welche Aufgaben, ist es im Team möglich Entscheidungen zu treffen, sich klare Ziele zu geben, ist jeder gewillt Verantwortung mitzutragen.
Die Frage stellt sich auch, wie regle ich es mit dem Lohn. Erhalten alle etwas mehr. Im Silicon Valley arbeiten Firmen auf einem ähnlichen Prinzip. Es ist sicher gut, den Gedanken weiter zu verfolgen.
Das glaube ich auch. Die Entwicklungen in vielen Bereichen zeigen, dass es in diese Richtung gehen könnte. Längst sind diese über Silicon Valley hinausgekommen. Auch in der Schweiz arbeiten immer mehr Firmen mit selbststeuernden Teams. Und immer mehr Führungspersonen interessieren sich dafür.
Nebst Offenheit, Ehrlichkeit und Mut braucht es vor allem auch Vertrauen. Ineinander und in die Organisation. Denn nur dann bin ich bereit, offen und ehrlich zu sein.
Und es braucht Zeit und Geduld für solch grundlegende Wandlungen. Nicht alles wird sofort gelingen.
Und natürlich wollen nicht alle Menschen so arbeiten. Es gibt auch Mitarbeitende, die wollen mitgehen, sich führen lassen und können so gute Arbeit leisten. Aber vielleicht lässt sich das ja sogar verbinden, wenn wir nicht in ‚entweder-oder‘ sondern ’sowohl-als-auch‘ denken. Auch zum Thema Selbststeuerung. Und dann kann ‚Scheitern‘ auch als ‚Lernen auf dem Weg‘ gesehen werden
Liebe Lucia, der Artikel ist dir sehr gut gelungen. Herzlichen Dank für die Inspiration, ich finde die Idee sehr faszinierend.
Liebe Grüsse Maren
Danke!
Ich freue mich auf Austausch und Diskussion darüber.
Spitex Zürich Limmat mit ihren fast tausend Mitarbeitenden ist eine dieser Organisationen, welche sich entschieden hat, den Weg hin zu selbstorganisierten Teams zu gehen. Nach intensivem Kontakt mit Buurtzorg und einer langen Zeit, mit der wir uns in der Geschäftsleitung damit auseinandergesetzt haben, sind wir jetzt in der Phase der Umsetzung. Der erste Schritt war die Haltungsänderung der oberste Führung: Wollen wir das wirklich? Was bedeutet das? Für wen machen wir das? Sind wir in der Lage, loszulassen? Können wir die Kontrolle abgegeben? Können wir vertrauen? Welche Rahmenbedingungen braucht es? Dies alles bedeutete den Willen zur Reflektion und offenen Diskussion.
Weshalb haben wir uns für dieser Weg entschieden? Wir möchten:
– Unserer Kundschaft mehr Kontinuität bieten. Seit Jahren ist dies ein Kritikpunkt in den Kundenbefragungen. Kleinere Teams kennen ihre Kundschaft und sie die Mitarbeitenden. Dadurch ist die Kundenbeziehung klarer und einfacher zu gestalten.
– Den Mitarbeitenden mehr Entscheidungskompetenz zutrauen. Nicht nur bei der Ferien- und Dienstplanung, sondern auch in der Organisation ihres Arbeitsalltags. Mit wechselnder Besetzung der verschiedene Rollen, gemeinsamer Verantwortung für das Funktionieren des Teams und Coaching wird eine inoffizielle Führung vermieden.
– Unseren Betrieb finanziell gesund halten. Das Modell ist keine Sparübung wie oft behauptet wird. Vielmehr möchten wir die Mittel dort einsetzen, wo sie den Kundinnen und Kunden sowie Mitarbeitenden etwas bringen.
– Konsequent die Komplexität reduzieren und die Prozesse vereinfachen durch Anwenden des Lean-Prinzips.
Die ersten Erfahrungen in unserem Pilotzentrum Schwamendingen zeigen, dass einige Mitarbeitenden sehr zufrieden, einige eher unzufrieden, einige gekommen und einige gegangen sind. Der Lernprozess verlangt Zeit. Selbstorganisation bedingt nicht nur bei der Geschäftsleitung eine Haltungsänderung, sie muss die gesamte Organisation erfassen. Dazu braucht es Mut, mit Fehlern Erfahrungen zu sammeln und es ist Begleitung durch Coaching notwendig.
Die Überzeugung, dass Selbstorganisation der richtige Weg ist, ist für das Gelingen unabdingbar. Wir wollen dieses Projekt aber nicht einfach den Mitarbeitenden überstülpen. Ganz im Sinne der Selbstorganisation sind sie eng in das Projekt involviert und wir merken, welches Potential bei den Mitarbeitenden schlummert. Wir sind sicher, diese zu aktivieren, um damit die Kunden- wie auch die Mitarbeitendenzufriedenheit gleichermassen zu fördern und unsere Ziele damit zu erreichen.
Ergänzende Literatur: Selbstorganisierte Teams in der Praxis – Astrid Vermeer und Ben Wenting – Sdu Verlag
Liebe Frau Teunissen
Danke für diesen ausführlichen Einblick in Ihr Pilotprojekt. Ich gratuliere zu diesem mutigen Entscheid und dem sorgfältigen Vorgehen.
Es kommt gut zum Ausdruck, dass die Fragen der inneren Haltung ganz entscheidend ist.
Selbstorganisation ist eben wirklich ein Kulturwandel. Gerade darum finde ich diese Projekte ja so spannend. Sie fordern unser Denken und Fühlen grundlegend heraus.
Und das braucht Zeit. Es ist wie im Garten: der Salat wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Mitarbeitenden Geduld und Zuversicht und bin gespannt, wie es weitergeht mit der Bewegung und welche Formen sie noch annimmt in den nächsten Jahren. Vielleicht bald auch in anderen Organisationen des Gesundheitswesens?
Als Pflegefachmann HF und 10 jährig erprobter Spitexler erlaube ich mir eine kritische Stellungnahme zum „Burtzorgekonzept“ Alle Jahre wieder wird das Rad neu erfunden. Straffe Hyrarchie wechselt zu Leanmanagment und buchstabiert zu vermehrter Laienarbeit (Nachbarschaftshilfe). Abgesehen davon dass diese steht’s wiederkehrenden Konzeptwandlungen auch nicht gerade wirtschaftlich sind. Zuerst nimmt man ein Pflegebedürfnis auf baut ein recht gut funktionierendes Spitexkonzept auf. Dann steigen nebenbei die allgemeinen Gesundheitskosten. ( durch höhere Lebenserwartungen dank Spitzenmedizin und erwartungsvollen mündigen Pat, bessere Diagnostik MRI etc. ) Nachdem nun die Kosten weiter steigen sucht der Stationäre Bereich mittels DRG die Kosten zu senken. Daraus ergibt sich ein erhöhter Bedarf an Spitextagen. Nach dieser Kostenverschiebung versucht man mittels „Buurzorgen und sich selbst steuernden top digital gesteuerten Spitexorganisationen diese Kostenexplosionen anzugehen. MEINT IHR EFFEKTIV DAS DIES DIE
Fortsetzung Teil 2
MEINT IHR WIRKLICH, DASS (meines Erachtens) DIESER RÜCKSCHRITT DER RICHTIGE LÖSUNGSANSATZ IST ?
Schön wäre es, wenn alle Entscheidungen als Team getroffen werden könnten und wir uns einheitlich als gleich-starke und erfahrene Frau-/ Mannschaft den Pflegeempfängern zur Verfügung stehen würden. Wer verteilt gerechte Ferien und freie Tage? Es braucht doch Verantwortliche welche Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen treffen und in Konfliktsituationen und bei Fehlern Ansprechpartner sind. Vielleicht verstehe ich das holländische Model zuwenig. Aber sind diese Nachbarn echt gewillt die Grundversorgung (Körperpflege, Ernährung und Haushaltdienste unentgeltlich an 7 Tagen der Woche evtl sogar nachts zu übernehmen? Wenn ja dann erhalten Sie meinen grossen Respekt, aber ich habe den Eindruck, dass es mit der schweizerischen Nachbarschaftshilfe nicht mehr so weit her ist !? ( Jeder schaut doch heute primär für sich, Alle brauchen doch schliesslich ein gesichertes Einkommen )!?
Mein Fazit lautet: Kontinuität und Ehrlichkeit führen zum Erfolg. Gute Arbeit hat ihren Preis !
Schaut Euch mal die Löhne der Krankenkassenmanager an und interessiert Euch für die Gehälter der Teppichetagen im Gesundheitswesen, bevor man wieder einmal mehr bei den selbstlosen Pflegefachfrauen zu sparen beginnt.
Schön, dass sich trotz allen Belastungen bei relativ geringem Lohn sich immer wieder junge Menschen für diesen Beruf entscheiden !
Teil 3
Frau Teunissen und ihrem Konzeptbericht möchte ich insofern recht geben, dass kleine Teams bedeutend effizienter arbeiten können und dass in vielen Mitarbeitern gute versteckte Ressourcen schlummern die durchaus geweckt werden wollen.
Nur besteht wie in jeder Gruppenzusammensetzung die grosse Gefahr, dass starke Persönlichkeiten schwächere Mitarbeiter längerfristig benachteiligen und Diese über kurz od lang hält abspringen. Wenn man dazu bedenkt, was so ein Mitarbeiterwechsel effektiv an Kosten generiert, dann wünschte ich mir lieber eine(n) faire(n) Vorgesetzte(n) als endlose Diskusionen.