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Von schöner Nähe und angemessener Distanz

Text: Lucia Zimmermann

Es geht in diesem Blog um körperliche Nähe, um Grenzen und deren Überschreitung und um Machtverhältnisse. Pflegen ist ein Geschäft mit viel Nähe. Um alte, kranke und beeinträchtigte Menschen zu pflegen, müssen Sie bereit sein, ihnen körperlich nahe zu kommen und auch emotionale Nähe aufzubauen. Auf einer professionellen Ebene. Im Umgang mit Kolleginnen, mit Vorgesetzten, mit der eigenen Familie oder in der Öffentlichkeit gelten dann jeweils wieder andere Regeln.

Wenn Sie hingegen krank und pflegebedürftig sind, müssen Sie körperliche Nähe von fremden Menschen zulassen und mit der emotionalen Nähe oder Distanz zurechtkommen, die Ihnen geboten wird. Sie sind abhängig vom Nähe- und Distanzverhalten der Pflegenden.

 

Distanzzonen

Betrachtet man die körperliche Seite, werden vier Distanzzonen unterschieden:

  • Die intime Zone bis ca. 50 cm. Sie ist Menschen vorbehalten, die uns sehr nahestehen, dem Partner oder der Partnerin. Und auch das nicht jederzeit.
  • Die persönliche Zone von 50 cm bis 1.5 m. Darin bewegen wir uns in Alltagsgesprächen, am Arbeitsplatz, bei Begrüssungen. Es ist die Armlängendistanz.
  • Die soziale Zone von 1.5 bis 3.5 m ist der Abstand, in dem wir uns mit fremden Personen unterhalten, an Sitzungen oder auch mit indirekten Vorgesetzen.
  • Die öffentliche Zone ab 3.5 m ist in der Regel unproblematisch.

Pflegende dringen also permanent in die Intimzone eines anderen ein. Ich erinnere mich noch gut an meine Berührungsängste als junge Praktikantin. Ich traute mich kaum, hätte am liebsten vor jeder Berührung «angeklopft». Ich habe es schnell gelernt. Meine Berührungen wurden bestimmter und für mich leichter. Ich wurde routinierter, professioneller halt. Irgendwann wurde mir bewusst, dass es für mich selbstverständlicher war als für die, die ich pflegte. Das Eindringen in die intime Zone ist eine Grenzüberschreitung. Und dafür braucht es eine Art Bewilligung.

 

Grenzüberschreitung

Auch meine Grenzen wurden überschritten. Wenn die Körperpflege, das Gespräch plötzlich eine sexuelle Komponente erhielten oder eine Hand sich an meine Brust «verirrte», war das unangenehm und peinlich für mich. Da musste ich lernen, meine Grenzen aufzuzeigen, ohne den Respekt vor dem Gegenüber zu verlieren. Ich musste lernen zu sagen: «Lassen Sie das!». «Nein, stopp, das geht zu weit!» und dann die Person trotzdem weiter zu pflegen.

Viele Jahre später erlebe ich Pflegeteams aus der Perspektive der Supervisorin und Teamentwicklerin und da fällt mir manchmal auf, wie viel körperliche Nähe die Teammitglieder untereinander leben. Da wird umarmt und geküsst. Es ist eindeutig und sichtbar viel mehr körperliche Nähe als in Teams anderer Branchen. Es ist schön zu sehen und trotzdem auch ein bisschen irritierend. Ich hoffe, die «Bewilligungen» sind eingeholt und individuelle Grenzen werden gesetzt und auch respektiert.

 

Belästigt?

Die individuellen Grenzen des anderen überschreiten kann Belästigung sein. Nämlich dann, wenn die andere Person das nicht will. Belästigung ist dann immer Machtmissbrauch. Abhängige und wenig selbstsichere Menschen sind besonders gefährdet. Sie können sich am schlechtesten wehren. Oder sie wehren sich ihrerseits mit Grenzüberschreitungen und Belästigung, um ihre Ohnmachtsgefühle zu kompensieren. Beides ist nicht gut.

Nachfolgend ein paar Tipps für genügend Nähe und angemessene Distanz.

  • Lernen Sie Ihre persönlichen Grenzen kennen, lernen Sie wahrzunehmen, wann es Ihnen nicht wohl ist. Hören Sie auf Ihre inneren Signale und üben Sie «Nein» zu sagen.
  • Respektieren Sie Ihre eigenen Grenzen, so können Sie auch Grenzen anderer leichter respektieren.
  • Reden Sie im Team über körperliche Nähe und Distanz, auch in ihrer sexuellen Dimension. Immer wieder. Sprechen Sie darüber, wie Sie miteinander umgehen wollen. Orientieren Sie sich dabei an dem, was den potentiell Schwächsten allenfalls zu viel werden oder zu nahe gehen könnte.
  • Unterstützen Sie ihre Kolleginnen und Kollegen, insbesondere junge Menschen dabei, ihre eigenen Grenzen zu spüren und zu signalisieren.
  • Diskutieren Sie im Team auch das Thema Macht und Ohnmacht. Denn Pflegen hat viel damit zu tun.

Denken Sie daran: Sich selbst und anderen Grenzen zu setzen schafft klare Verhältnisse. Sie vermeiden damit unausgesprochene Vorwürfe, Ärger und schlechte Gefühle.

 

Lucia Zimmermann
Schulungszentrum Gesundheit SGZ
Programmleiterin Bildung
lucia.zimmermann@zuerich.ch
angebot.wissen-pflege-bildung.ch

Kommentare: 0 | Autor: SGZ | Kategorien: Kategorie Pflege & Betreuung

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