Di. 28.07.20Ethische Probleme haben viele Ursachen (1. Teil)
Text: Beatrice Widmer
In der stationären und ambulanten Langzeitpflege werden mehrheitlich Menschen mit Multimorbidität begleitet. Gerade bei dieser vulnerablen Personengruppe besteht ein erhöhtes Risiko für Über, Unter-, Fehl- oder Ungleichversorgung. In solch komplexen Situationen erleben Mitarbeitende nicht selten Zwangslagen und Entscheidungsschwierigkeiten. Ethische Fragen oder Probleme entstehen jedoch nicht ausschliesslich durch spezifische Faktoren, die sich in Pflegesituationen ergeben. Auch vorgegebene, suboptimale Rahmenbedingungen können dafür mitverantwortlich sein.
Individuelle Umstände (Mikroebene)
Der Umgang mit chronischen Mehrfacherkrankungen, schwerer Pflegebedürftigkeit, Lebensende, fragile Urteilsfähigkeit durch hirnorganische und/oder psychische Erkrankungen, Vereinsamung, psychische und körperliche Verwahrlosung, unklare Finanzierung von Pflege- und Begleitungsleistungen und Erschöpfung von Angehörigen sind Themen, mit denen sich Pflegende in der ambulanten und stationären Langzeitpflege regelmässig auseinandersetzen müssen. Für die Bewältigung der damit verbundenen anspruchsvollen und umfangreichen Aufgaben, können betriebliche Ethikstrukturen eine gewichtige Unterstützung sein.
Ein weiterer Faktor für die Entstehung von ethischen Fragen und Problemen auf der Mikroebene ist der stetige Personalmangel. Dies löst bei den Mitarbeitenden chronischer Zeitdruck mit daraus resultierendem moralischem Stress aus. Folgende Aussage einer Mitarbeitenden veranschaulicht dies: «Aufgrund der häufigen personellen Unterbesetzung, sind wir den ganzen Tag damit beschäftigt, die pflegerische Grundversorgung sicherzustellen. Hinzu kommen noch die damit verbundenen, grossen administrativen Aufwände. So fehlt uns die Zeit, um auf die individuellen Gefühle und Bedürfnisse von unseren, an Demenz erkrankten Bewohnenden, einzugehen. Es ist oft fast nicht möglich, ein Gespräch zu führen oder jemandem Trost zu spenden. Das wäre doch wichtig für das Wohlbefinden dieser Menschen und gehört auch zu unseren Kernaufgaben. Ich muss ehrlich sagen, das beschäftigt mich manchmal auch in meiner Freizeit. Es ist auf die Dauer unbefriedigend, so arbeiten zu müssen.»
Strukturelle Umstände – die Meso- und Makroebene
Fehlende oder mangelhafte strukturelle Rahmenbedingungen innerhalb der Institution (Mesoebene) können ebenso ethische Fragen und Probleme auslösen. Dazu gehören beispielsweise Unternehmenskulturen mit fehlgeleiteter Ökonomisierung wie: Systematischer Personalmangel, oder Bildungsmassnahmen, die trotz gegebenem Bedarf nicht ermöglicht werden. Zum einen wegen Sparmassnahmen und zum anderen, weil das Bewusstsein nur rudimentär vorhanden ist, dass Bildungsmassnahmen auch der Pflegequalität dienlich sind. Auch nicht ausreichend vorhandene Patienteninformationen, können einen gewichtigen Beitrag zur Entstehung von ethischen Fragen und Probleme leisten. Ebenso, wenn aufwändigen Leistungserhebungs- und Abrechnungssystemen unter Einhaltung von vorgegebenen unrealistischen Zeitfenstern bearbeitet werden müssen.
Die Makroebene beinhaltet vorgegebene gesellschaftliche, sozialpolitische oder versicherungsrechtliche Rahmenbedingungen, die Auswirkungen auf konkrete Pflegesituationen haben. Ungedeckte Kosten durch inadäquate Versicherungsmodelle oder Betreuungsleistungen, die nicht finanziert werden sowie uneinheitliche kantonale und/oder kommunale Finanzierungen, führen zu einer Kostenüberwälzung auf die Pflegeempfänger/-innen. Nimmt man die ethische Perspektive an, wird deutlich, dass die fachlich und ethisch angemessene Versorgung der pflegebedürftigen hochbetagten Bevölkerung angemessene gesetzliche Rahmenbedingungen erfordert. Es ist unethisch, die Folgen ungeregelter Finanzierungsmodelle den Schwächsten im System aufzubürden. Zumal das medizinethische Prinzip «Gerechtigkeit» besagt, dass verschiedene Menschen in ähnlichen Lebensbedingungen, Anspruch auf dieselben Versorgungsleistungen haben.
Fazit
Entscheidungen, die auf der Makro- und Mesoebene getroffen werden, haben unmittelbare Konsequenzen für alle Beteiligten auf der Mikroebene. Bei den Rahmenbedingungen auf der Masoebene gibt es nach wie vor Entwicklungsbedarf. Das ist das Eine. Zum anderen kann auf der Mikro- und Mesoebene mit der Implementierung von betriebliche Ethikstrukturen vieles bewirkt werden. Sie fördert die Resilienz und Professionalität der Mitarbeitenden. Ferner wird die multidisziplinäre Zusammenarbeit gestärkt. Dies hat wiederum positive Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Lebensqualität von Spitex-Klientinnen und -Klienten oder Bewohnende in Langzeitinstitutionen.
Der zweite Teil von «Ethische Probleme haben viele Ursachen» publizieren wir im August 2020.
Beatrice Widmer
Schulungszentrum Gesundheit
Programmleiterin Bildung
beatrice.widmer@zuerich.ch
www.stadt-zuerich.ch/sgz
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