Do. 30.06.22Bericht zum 3. Zürcher Demenzsymposium: «Wishionär – (gut) Leben mit Demenz»
Text: Eveline Kühni, NOVAcura, Beatrice Widmer und Dr. phil. Marcel Maier, beide Schulungszentrum Gesundheit
Alle 17 Minuten erkrankt in der Schweiz eine Person an Demenz. Ab diesem Zeitpunkt sind eine bis drei Angehörige mitbetroffen. Reden wir genügend mit diesen Menschen? Kennen wir ihre Bedürfnisse? Um etwas über ihre Wünsche und Visionen zu erfahren, kamen im Rahmen des Zürcher Demenzsymposiums neben den Fachpersonen auch Betroffene selbst zu Wort. Die NOVAcura war am Vormittag vor Ort und fasst für Sie zusammen.
«Lebensqualität bei Demenz – geht das überhaupt?» wird im Titel des Einstiegsreferats von Stefanie Becker gefragt. «Ja, es geht», nimmt die Direktorin von Alzheimer Schweiz die Antwort vorweg. Aber nur unter gewissen Bedingungen: Um betroffene Erkrankte und Angehörige zu verstehen und entsprechend zu handeln, muss man über die Krankheit Bescheid wissen. Menschen mit Demenz weichen von der Norm ab. Wie im Video gezeigt wird, hören sie wegen ihrer Krankheit beispielsweise mitten im Satz mit Sprechen auf, weil sie die Worte nicht finden. Im fortgeschrittenen Stadium verlieren sie die konventionelle Sprache ganz. Statt uns irritiert abzuwenden, müssen wir hinhören und -schauen, uns ihnen zuwenden und geduldig sein – als Angehörige*r oder Fachperson, aber auch als Nachbar*in oder Verkäufer*in. Direkt und indirekt von Demenz Betroffene wollen dazugehören und mitbestimmen. Dafür müssen Vorurteile abgebaut und die Krankheit enttabuisiert werden. Nur so wird eine gute Lebensqualität für Betroffene möglich.
Anneliese Gruber war als Angehörige von Demenz betroffen. Sie erzählt über die Erkrankung ihres Ehemanns, der im Januar dieses Jahrs verstorben ist. Eindrücklich schildert sie, wie sie nach der Diagnose von der Eventplanerin, Fahrerin und Sekretärin zur Rundum-Pflegerin und -Betreuerin wurde, wie ihr Mann anfing, sich an sie zu klammern, sie aber gleichzeitig ablehnte und ihr misstraute. Wie ihre eigenen sozialen Begegnungen immer weniger wurden, wie ihr manchmal das Verständnis von Nachbar*innen und Freund*innen fehlte, wie sie immer schlechter schlafen konnte und es schliesslich ohne Hilfe nicht mehr schaffte. Die nötige Entlastung vermittelten ihr Marianne Candreia und ihre Mitarbeiter*innen von Alzheimer Aargau. Die Spezialist*innen für «Zugehende Demenzberatung» kümmern sich um die Anliegen betroffener Angehöriger. Proaktiv nehmen sie Kontakt mit den Familien auf, machen Hausbesuche, sensibilisieren in Gesprächen und vermitteln individuell passende (Entlastungs-)Angebote. Sie geben aber auch konkrete Tipps, wie man mit Demenzerkrankten kommunizieren oder Anträge für finanzielle Unterstützung formulieren kann – alles Angebote, ohne die Anneliese Gruber die schwere Zeit nicht hätte meistern können.
Tätigkeiten, die Sinn stiften
Fabian Meister ist nicht Familienangehöriger eines Demenzerkrankten, war aber dessen Arbeitgeber. Dem CEO der Schmuckmanufaktur Meister & Co. und seinen Mitarbeiter*innen fiel auf, dass ein Mitarbeiter oft schläfrig war, sich bei der Arbeit kleinere Verletzungen zuzog, Schmuck fallen liess und sich zwecks Orientierungshilfe an andere klammerte. Weil er von seiner Familie kaum Unterstützung erhielt, begleitete ihn Fabian Meister bei einem Arzttermin und schliesslich zur Abklärung in der MemoryClinic im stadtzürcherischen Waid-Spital. Es sei sehr selten, dass bei Tatjana Meyer-Heim, Leiterin der Klinik, Arbeitergeber*innen von (Verdachts)fällen vorstellig werden. Sie berichtet, dass berufstätige Demenzerkrankte oft durchs Netz fallen, dabei wäre gerade für sie eine sinnstiftende Tätigkeit und ein Team von Arbeitskolleg*innen sehr wichtig, um aufgrund der Einschränkungen nicht zu vereinsamen oder verkümmern. Tatjana Meyer-Heim appelliert deshalb an die Kreativität und Flexibilität von Arbeitgeber*innen, und gibt Tipps, wie es gelingen kann, dass Erkrankte im arbeitsfähigen Alter eine sinnstiftende Tätigkeit in geschütztem Umfeld ausüben können.
Auch Luzia Hafner will jungen Demenzbetroffenen einen sinnstiftenden Alltag ermöglichen. Seit 2005 bietet die Pflegefachfrau und Bäuerin mit ihrem Team in steigender Anzahl Tages- und Ferien-, später auch Langzeitpflegeplätze für Menschen mit Demenz an: zuerst auf ihrem Bauernhof (Hof Obergrüt), später in einem ehemaligen Kloster (Hof Rickenbach). «Alle arbeiten bei uns entsprechend ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen.» Die Menschen mit Demenz führen Tätigkeiten in Haus und Garten, in der Werkstatt und im Stall aus und finden bei Massagen, Tanz, Yoga oder Fitnesstraining den nötigen Ausgleich. Dass die Arbeit für die Betroffenen mehr als blosse Beschäftigung ist, merkt Hafner zum Beispiel daran, dass sie sich allein für das Tierwohl zuständig fühlen und die Verantwortung dafür nicht den Betreuenden abgeben. Dieses Verantwortungsgefühl sei es, das sinnstiftend wirkt und dem Wohlbefinden der Menschen dient, aber auch Luzia Hafners Credo, den Menschen und nicht die Krankheit in den Mittelpunkt zu stellen.
Musik entspannt und aktiviert
Musikalisch weiter ging es nach der Mittagspause mit einem sinnlichen Beitrag von Annette Cox (Musiktherapeutin) und Nathifa Sydler (Aktivierungstherapeutin). Beide sind im Gesundheitszentrum für das Alter Bachwiesen tätig. Sie zeigten auf, wie wichtig Musik für das menschliche Wohlbefinden ist, insbesondere für Personen mit Demenz. Beispielsweise werden Fähigkeiten und Erinnerungen reaktiviert. Anhand von Studien wurde bewiesen, dass die Musiktherapie für die Reduktion von Neuroleptikaverordnungen massgeblich ist. Beide sind regelmässig mit ihrem «Musikwagen» unterwegs und können so individuell und spontan Einzel- oder Gruppenaktivitäten gestalten. Mit ihrer Arbeit erhalten sie Freude, Lebenslust und Kreativität bei den Betroffenen und steigern somit Selbstwertgefühl und Selbstbestimmung. Durch mehrere Darbietungen, verteilt auf den gesamten Tag, gaben sie Einblick in ihr vielfältiges Können.
Wolfgang Hasemann, Leiter des Basler Demenz-Delir-Programms der Universitären Altersmedizin Felix Blatter, Basel richtete den Fokus aufs Akutspital. Den Schwerpunkt seines Vortrags legte er auf die Delir-Prophylaxe und wies auf die Wichtigkeit eines systematischen Delirmanagements durch nichtpharmakologische Prävention, Früherkennung und Frühbehandlung hin. Es gilt, laut Hasemann, mögliche Komplikationen bereits im Vorfeld zu vermeiden. Besonders hob er das erhöhte Sturzrisiko hervor und warnte vor der Möglichkeit eines entstehenden Teufelskreises: «Ein Sturz kann Schenkelhalsfrakturen nach sich ziehen, diese erhöhen das Risiko eines Delirs, was wiederum das Risiko für Demenz erhöht». Für den Aufenthalt bedeutet dies unter anderem, die Betroffenen nicht zu überfordern und die Angehörigen vermehrt mit einzubeziehen.
Über Leben und Alltag von Demenzbetroffenen in Institutionen der Langzeitpflege berichtete Sven Brenner, Fachexperte Demenz im Gesundheitszentrum für das Alter Bombach. Vom Eintritt und der «Einlebephase», über die Bewältigung von Krisensituationen, der Ernährung bis hin zur palliativen Situation skizzierte er anhand eines Beispiels die jeweiligen Herausforderungen an Pflege und Betreuung. Ferner gewährte Brenner einen Einblick in die personelle Aufstellung im Gesundheitszentrum und betonte die Wichtigkeit demenzspezifischer Weiterbildungen. Abgerundet wurde sein Referat durch einen Einblick in die Entwicklung und Anwendung der DemCare© Qualitätsparameter Demenz.
In der abschliessenden Podiumsdiskussion wurden Stellungnahmen zu folgenden Haltungsgrundsätzen abgegeben: Ambulant vor stationär! In jedem Fall!? Separative versus integrative Wohnformen für Personen mit Demenz? Was braucht es konkret, für eine demenzfreundliche Gesellschaft? Und was sind zentrale Elemente bei der Begleitung von Personen mit Demenz? Spannende Erfahrungen und Haltungen dazu wurden von Dr. Stefanie Becker, Giusep Albin, Leitung Begleitung und Pflege, Gesundheitszentrum für das Alter Wildbach, Petra Fischer, Fachentwicklung Demenz Spitex Zürich, Judith Kronbach, Demenzberaterin Gerontologische Beratungsstelle SiL und Dr. Wolfgang Hasemann abgegeben.
Fazit
Gutes Leben mit Demenz ist möglich! Aber nur, wenn wir genau hinschauen und -hören, wie es den Erkrankten wirklich geht und was sie wirklich brauchen. Dafür müssen wir sie und ihre Angehörigen ein- statt ausschliessen, sie teilhaben lassen und ihnen sinnvolle Tätigkeiten ermöglichen – und die Politik ist gefordert, nötige Rahmenbedingungen (Stichwort Sicherheit und Selbständigkeit) zu schaffen und die unzähligen Stunden unbezahlter Care-Arbeit (auch finanziell) anzuerkennen.
Save-the-Date: 4. Zürcher Demenzsymposium
Dienstag, 20. Juni 2023 im Hotel Spirgarten, Zürich