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Gelebte Alltagsgestaltung in den Pflegewohngruppen

Text: Matthias Staub

Selbstbestimmte Alltagsgestaltung

Zufriedenheit und Lebensqualität hängen stark von einer erfüllten, sinnstiftenden und selbstbestimmten Alltagsgestaltung ab. Im Alter nehmen berufliche und familiäre Pflichten ab, es gibt vermehrt Raum für die Ausübung von Hobbys und das Ausleben persönlicher Leiden-schaften. Mit zunehmender Pflege- und Betreuungsbedürftigkeit schwinden die persönlichen Ressourcen und damit auch die Fähigkeit, den Alltag ohne fremde Hilfe zu gestalten. Die Bedürfnisse und Leidenschaften aber bleiben bestehen.

«Der Anspruch auf Selbstbestimmung ist eng mit der Menschenwürde verknüpft und hat in der gegenwärtigen ethischen Diskussion einen hohen Stellenwert. Es ist keine würdige Behandlung und Pflege alter Menschen denkbar, bei der der Respekt vor ihrem Anspruch auf Selbstbestimmung nicht von zentraler Bedeutung wäre. Ganz abgesehen von rein ethischen Überlegungen, haben Untersuchungen gezeigt, dass die Erfahrung, selbst über sein Leben bestimmen und das, was mit einem geschieht, kontrollieren und beeinflussen zu können, von weitreichender Bedeutung ist für die Lebensqualität und das persönliche Wohlbefinden alter Menschen (Diehl 2012:84, 86).» Heinz Rüegger, Würde und Autonomie im Alter, CuraViva.ch

Es ist naheliegend, dass in einer Pflegewohngruppe (PWG), deren Mitarbeiter/-innen fast ausschliesslich aus pflegerischen Berufen stammen, der Fokus im Alltag zu einem grossen Teil auf die direkte und oft auch zeitraubende und intensive Körperpflege gerichtet ist. So ist es nicht weiter verwunderlich, wenn erfolgte oder bevorstehende pflegerische Verrichtungen den Alltag sowie den Inhalt von Teamrapporten dominieren.

Gleichzeitig ist zu beobachten, dass für die Bewohner/-innen die Körperpflege, Wundpflege etc. zwar eminent wichtig sind, aber wie bei nicht pflegebedürftigen Menschen nicht dauerhaft im Zentrum des Interesses stehen. Umso mehr möchten sie wissen, wie sich der Alltag gestaltet und welches ihre Einflussmöglichkeiten darauf sind.

Mit der Umsetzung des Konzepts Alltagsgestaltung wird bei den Mitarbeiter/-innen der PWG ein Paradigma-Wechsel angestrebt und zwar so, dass der Fokus insbesondere der Pflegenden nicht mehr in erster Linie auf die Körperpflege, sondern gestützt auf elf Leitsätze* gleichermassen auf die Alltagsgestaltung gerichtet ist.

Die PWG, in denen nach dem Normalitätsprinzip gelebt wird, bieten unzählige Möglichkeiten, auf individuelle Bedürfnisse einzugehen und die Ressourcen der Bewohner/-innen gezielt zu fördern und ihnen zu ermöglichen, Liebgewonnenes wieder zu entdecken oder weiterzuführen.

 

Ein Martini Bianco auf dem Sofa, ein feiner Duft aus der Küche …

Mittels einer systematischen, fragebogen-gestützten Erhebung der Bedürfnisse, Ressourcen und Leidenschaften wird für jede Bewohnerin und jeden Bewohner ein spezifischer, individueller Schwerpunkt für die Alltagsgestaltung ermittelt. Die konkreten Massnahmen sind in der Pflegeplanung verankert und werden regelmässig evaluiert. Dabei geht es oft nicht um grössere Aktivitäten, wie der monatliche Besuch des Coiffeursalons, der schon seit 40 Jahren auf der anderen Stadtseite liegt, sondern Rituale oder auch kleine Momente der Aufmerksamkeit wie z.B. die abendliche Viertelstunde mit einem Martini Bianco im Gespräch einer Pflegenden auf dem Sofa. Alltagsgestaltung ist nicht immer mit einer geplanten Aktivierung verbunden. Manchmal führt auch nur schon das Dabeisein, die Wahrnehmung eines feinen Duftes aus der Küche oder das Gefühl der warmen Sonne auf der Haut zu Momenten des Glücks und des Wohlbefindens.

Ziel ist es nicht, unzählige, nicht erfüllbare Wünsche zu wecken, sondern die Lebensqualität jedes Bewohners und jeder Bewohnerin durch die gezielte, für ihn/sie besonders bedeutungsvolle Beschäftigungen oder Aktivitäten spürbar zu steigern. Die Bedürfnisse und Alltagsrituale der Bewohner/-innen sind dabei als Leitfaden zu verstehen.

 

Wie steht es um die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden?

Ein wichtiger Effekt hat das Konzept der Alltagsgestaltung auch auf die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter/-innen, weil sie ihre vielfältigen Fähigkeiten und Begabungen bei der Arbeit einsetzen dürfen, die weit über die Erwartungen an das angestammte Berufsprofil hinausreichen. Wo sonst kann sich eine Pflegeassistentin als herausragende Köchin oder eine Fachfrau Betreuung mit der wunderschönen Gestaltung eines Blumen- und Kräutergartens einen Namen machen?

Heute, knapp zwei Jahre nach der Einführung, ist der Begriff der Alltagsgestaltung allgegenwärtig und mit einer Vielzahl von positiven Geschichten und Erlebnissen verbunden. Bis Ende 2018 wird die Umsetzung des Projekts umfassend überprüft, dessen Potential mit Sicherheit noch nicht ausgeschöpft ist.

 

*Leitsätze der Alltagsgestaltung PWG

  • Wir kennen die Leidenschaften, Bedürfnisse und Fähigkeiten unserer zu betreuenden Bewohner/-innen sowie der Mitarbeiter/-innen und beziehen diese in die Alltagsgestaltung mit ein.
  • Wir gestalten jeden Tag gemeinsam mit den Bewohner/-innen.
  • Wir beziehen das Wissen und die Ressourcen des sozialen Umfelds in die Alltagsgestaltung mit ein.
  • Wir sind bei den Bewohner/-innen zu Gast und nicht umgekehrt.
  • Wir haben keinen Erziehungsauftrag.
  • Der Lebensraum ist nicht beschränkt auf die vier Wände der Pflegewohngruppe.
  • Wir sind uns des Spannungsfeldes zwischen Autonomie und Fürsorgepflicht bewusst.
  • Wir sind neugierig auf den Menschen (und nicht auf seine Körperfunktionen).
  • Das äussere Erscheinungsbild der Bewohner/-innen darf nicht die alleinige Visitenkarte des Personals sein.
  • Wir respektieren die Privatsphäre der Bewohner/-innen und schaffen ihnen Rückzugsmöglichkeiten.

 

Matthias Staub
Pflegezentren der Stadt Zürich
Betriebsleiter Pflegewohngruppen
matthias.staub@zuerich.ch

 

Gewohnheiten sind nicht einfach nur «Mödeli»!

Aufgrund von persönlichen Bedürfnissen sind «Mödelis» über viele Jahre hinweg entstanden und haben sich für das Individuum bewährt. Sie geben Sicherheit, Zuversicht und steigern somit die Lebensqualität. Dies gerade in Phasen des Lebens, die durch Abhängigkeit und Ungewissheit gekennzeichnet sind. Deshalb müssen sie bei der Begleitung von bedürftigen Menschen erkannt, akzeptiert und mit eingebunden werden.

Das SGZ bietet zum Themenfeld «Bedürfnisorientierte Alltagsbegleitung» einige spannende Fortbildungen an. Sind Sie neugierig geworden? Dann folgen Sie unseren Bildungslinks:

Kommentare: 4 | Autor: SGZ | Kategorien: Kategorie Pflege & Betreuung

Kommentare zum Artikel

  1. Buchmann Edith Kommentar vom 25.10.2018

    Als nicht in der Pflege Tätige darf ich mir wohl folgenden Hinweis erlauben: Schön, dass die Verantwortlichen dieses Wissen nun auch haben – Pflegende hatten es schon lange. Burnouts und Kündigungen des Pflegepersonals könnten wohl auch vermieden werden, wenn solche Grundlgen den Pflegeberuf tatsächlich bestimmen. Allerdings müssten dazu auch die Rahmenbedingungen und der Lohn stimmen, bis das für Bewohner und Pflegende gleichsam stimmen kann. Wird daran auch “gearbeitet”, dass diese guten Ideen auch wirklich umgesetzt werden können? Ich wünsche es mir. Herzliche Grüsse, Edith Buchmann, Ottenbach

    • Matthias Staub Kommentar vom 01.11.2018

      Sehr geehrte Frau Buchmann
      Vielen Dank für Ihre Rückmeldung zu unserem Konzept der Alltagsgestaltung. Selbstverständlich müssen für die Umsetzung die entsprechenden Rahmenbedingungen stimmen und es freut mich Ihnen mitteilen zu dürfen, dass dies bei uns auch wirklich der Fall ist. Wir sind ein kleiner Betrieb mit einer sehr flachen Hierarchie. Unser Arbeitsalltag ist geprägt von gegenseitiger Wertschätzung, Freude am gemeinsamen Auftrag und der Bestrebung, durch Gewährung von grossen Handlungsspielräumen jeder Mitarbeiterin und jedem Mitarbeiter die grösstmögliche Entfaltungschance zu geben.

      Beste Grüsse
      Matthias Staub
      Betriebsleiter
      Pflegewohngruppen
      Stadt Zürich

  2. Doreen Prüher Kommentar vom 25.10.2018

    Als Stationsleitung einer Wohngruppe und einer Pflegestation in der Sonnweid erstaunt mich der Inhalt dieses Artikels. Ich dachte wir sind weiter in der Pflege. Wir leben Menschlichkeit in der Pflege. Seit über 30 Jahren pflegen wir in der Sonnweid sowohl auf der Wohngruppe, als auch auf den Stationen die Bewohner entsprechend ihrer Bedürfnisse und absolut individuell. Für uns steht der Mensch mit seinen Gewohnheiten, Vorlieben und Bedürfnissen im Vordergrund so er bei uns eintritt und bis er uns verlässt. Um es dem Bewohner zu ermöglichen ihm lieb gewonnenes weiter zu leben und neues lieben zu lernen braucht es aufmerksame, liebevolle Mitarbeiter für die die Lebensqualität der Menschen im Vordergrund steht. Wir brauchen keinen Paradigmenwechsel, wir arbeiten schon immer so. Was muss ich mir darunter vorstellen, wenn “bis Ende 2018 die Umsetzung des Projektes(Alltagsgestaltung?) umfassend überprüft wird”? Lebensqualität als alter Mensch erfahren und leben dürfen = ein Projekt? Es ist doch selbstverständlich, dass wir mit den Bewohnern in unserer Einrichtung ihren Alltag leben, dass wir bei Ihnen zu Gast sind und nicht umgekehrt. Es kann doch nicht sein, dass Bewohner immer noch an effiziente Arbeitsabläufe angepasst und in Schemata gepresst werden. So möchte doch keiner von uns seinen wohlverdienten Lebensabend verbringen, oder doch? Es ist doch normal, dass Bewohner zum Beispiel ausschlafen können, ihre Gewohnheiten ausleben, essen und trinken was sie möchten, ihre Gewohnheiten weiter pflegen usw. Ein Besuch in der Oper in Zürich? Kein Problem. Bei uns werden so viele unterschiedliche Lebensmodelle und -konzepte gelebt, wie wir Bewohner haben. Auch ändern sich Gewohnheiten. Manchmal haben Bewohner jahrelang gern gekocht, aber jetzt möchten sie keine Kartoffeln mehr schälen. So gilt es aufmerksam auch bisher gern gemachtes immer wieder in Frage zu stellen oder Neues auszuprobieren. Ebenso sind Tiere, Pflanzen, ein Garten, ein Hochbeet, Kinder die in Einrichtung kommen etc. ein guter Grund morgens aufzustehen. Würde ist eine Lebenshaltung und drückt sich in der liebevollen Beziehung zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen aus. Getreu dem Motto: “Wir können dem Leben nicht mehr Tage geben, aber den Tagen mehr Leben.”

  3. Matthias Staub Kommentar vom 01.11.2018

    Sehr geehrte Frau Prüher
    Vielen Dank für ihre ausführliche Rückmeldung zu unserem Konzept Alltagsgestaltung. Es freut mich zu lesen, dass Werte wie Autonomie und Individualität sowie der Fokus auf eine bedürfnisorientierte Alltagsgestaltung der Bewohnerinnen und Bewohner in der Sonnweid seit Jahrzehnten für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ganz selbstverständlich sind. Natürlich sollte unser Beitrag auf wissen-pflege-bildung.ch nicht den Eindruck erwecken, dass dies für uns erst heute, 2018 von Bedeutung ist. Selbstverständlich orientiert sich die Pflege und Betreuung auch in unseren zehn Pflegewohngruppen seit Jahren an den Bedürfnissen und an den individuellen Interessen unserer Bewohnerinnen und Bewohnern. Bis 2015 gehörten unsere Standorte jedoch verschiedenen Pflegezentren als Aussenwohngruppen an. Daher trafen 2015 bei der Zusammenschliessung zu einem eigenständigen Betrieb unterschiedliche Kulturen aufeinander. Das Projekt Alltagsgestaltung war und ist eine von mehreren Massnahmen, unsere gemeinsame Betreuungskultur zu entwickeln und zu stärken. Angesichts Ihrer langjährigen Erfahrung in der Sonnweid mag es vielleicht seltsam anmuten, dass über etwas für Sie derart selbstverständliches ein Bericht erscheint. Wir sind aber der Meinung, dass die systematische Erhebung von Leidenschaften sowohl von Bewohnerinnen und Bewohnern (Pflegeplanung) als auch von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und deren kombinierte Verankerung im Alltag noch keine weite Verbreitung findet und diesbezüglich bei einigen unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterschiedlicher Bereiche durchaus von einem Paradigmawechsel gesprochen werden darf.
    Möchten Sie Näheres zu diesem Konzept oder zur Umsetzung erfahren? Gerne stehen Ihnen unsere Türen offen für einen Besuch und einen Austausch.

    Beste Grüsse
    Matthias Staub
    Betriebsleiter
    Pflegewohngruppen
    Stadt Zürich

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