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Ethik-Cafés in der Langzeitpflege: Halten sie auch, was sie versprechen?

Text: Dr. phil. Marcel Maier

Entwicklung der Ethik-Cafés und deren Ziele

Die ursprüngliche Idee der Ethik-Cafés orientiert sich an den «Cafés philosophiques», wie sie in den 1990er Jahren zuerst in Paris betrieben wurden. Dort trafen sich philosophisch interessierte Bürgerinnen und Bürger, um über Themen wie Freiheit, Menschenrechte oder Menschenpflichten zu diskutieren. Später haben sich diese Foren auch in weiteren Teilen Europas etabliert.

Ethik-Cafés gehen davon aus, dass es sich leichter bei Kaffee oder Tee und Gebäck über komplexe philosophisch-ethische Fragen debattieren lässt. Vor allem wenn es sich bei den Teilnehmenden um Laien handelt, die es nicht gewohnt sind, sich mit philosophischen oder ethischen Problemen auf analytische Weise auseinanderzusetzen.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen einem philosophischen und einem Ethik-Café ist der Kontext: Ethik-Cafés werden nicht in der Öffentlichkeit durchgeführt, sondern in Einrichtungen des Gesundheitswesens. Vorzugsweise finden sie ihre Anwendungen in Altenpflegeeinrichtungen, Krankenhäusern oder Universitätskliniken. Auch werden ausschliesslich Fragestellungen thematisiert, die im jeweiligen Kontext von Bedeutung sind.

Im Ethik-Café soll das Urteilsvermögen geschult werden, indem die gewohnte Denkweise durchbrochen und Grundannahmen hinterfragt werden. Es geht im interdisziplinär geführten Diskurs nicht um eine schnelle Einigung oder Konsensfindung, sondern um die moralische Betrachtungsweise eines Themas, um letztendlich einen Erkenntnisgewinn zu erzielen. Ethik-Cafés sind also eine Form der Weiterbildung – die mehr oder weniger in den Kontext einer umfassenderen Ethikorganisation eingebettet sein können.

Ethik-Cafés laden alle interessierten Mitarbeitenden – Pflegende und Nicht-Pflegende – dazu ein, sich in ungezwungener Atmosphäre zu moralischen Fragen auszutauschen und sich Rat zu holen. Es wird ihnen ein Raum geschaffen, in dem ein offener Austausch über moralische Fragen stattfindet, die im Umgang mit pflegebedürftigen und alten Menschen auftreten. Es sollen Orientierungshilfen und praktische Hinweise geliefert werden, wie den moralisch gefärbten Konflikten im Alltag eines Pflegeheims begegnet werden kann.

Durch gezieltes und teilweise provokatives Nachfragen regt der/die Moderator/-in zum eigenständigen Denken an. Er/sie motiviert, das Problem aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und vorherrschende Ansichten und Lehrmeinungen kritisch zu hinterfragen.

Das Thema sollte stets einen Bezug zum Arbeitsalltag haben, aktuell sein, die Mitarbeitenden bewegen und interessieren. Im diskursiven Prozess sollen Sensibilität, Argumentationsvermögen, Konsens- und Kompromissbereitschaft gefördert sowie die Kommunikationskultur insgesamt in Richtung Transparenz und Sachlichkeit verbessert werden.

Aber funktioniert das auch?

Wie beurteilen die Teilnehmenden die damit verbundenen Ziele? Vorausgeschickt werden muss, dass den Ethik-Cafés in der Literatur zahlreiche positive Eigenschaften zugeschrieben werden. Diese sind bis dato jedoch nicht hinreichend nachgewiesen worden. Im vorliegenden Beitrag werden nun die Ergebnisse einer umfassenden, empirischen Untersuchung der Ethik-Cafés zusammengefasst (siehe Literaturhinweis). Hierfür wurden die Ethik-Cafés im Pflegezentrum Mattenhof-Irchelpark (Pflegezentren der Stadt Zürich) mittels eines eigens konstruierten Fragebogens evaluiert. An der Erhebung waren über 100 Personen beteiligt. Insgesamt wurden sieben Ethik-Café untersucht. Etwa die Hälfte der Teilnehmenden war nicht dem Pflegedienst zugehörig.

Die grösste Zustimmung erhielt die Eigenschaft «Verbesserung der Analysefähigkeit»: 37.5 % aller Befragten waren vorbehaltlos der Meinung, dass die Teilnahme am Ethik-Café dazu beigetragen hat, zukünftig komplexe oder schwierige Situationen mit Bewohnern oder Angehörigen besser verstehen und analysieren zu können. Für 41.3 % der Studienteilnehmenden stimmt diese Aussage immerhin noch grösstenteils.

Eine annähernd hohe Zustimmung erhielt die Aussage, dass die Teilnehmenden durch die Ethik-Cafés Unterstützung erhalten, um schwierige Situationen mit Bewohnern und/oder Angehörigen «ethisch korrekt» zu meistern. Für 37.5 % der Teilnehmenden trifft diese Aussage vollumfänglich zu. Grosse Zustimmung erhielt auch die These, dass die Intervention die eigene, ethische Sensibilität positiv beeinflusse. Die Teilnehmenden sind nämlich der Meinung, dass ihnen moralisch bedingte Problemstellungen und Konfliktsituationen nun eher auffallen und bewusster auch als solche interpretiert werden (37.5 %). Somit kann davon ausgegangen werden, dass durch die Ethik-Cafés eine Steigerung der ethischen Sensibilität erreicht wird.

Den Ergebnissen zufolge helfen die Ethik-Cafés auch dabei, souveräner Entscheidungen zu treffen, wenn es in schwierigen Situationen keine eindeutige Lösung gibt (39.4 %). Ebenso wie sicherer zu argumentieren (31.6 %) und die Entscheidungen dann auch gegenüber verschiedenen Anspruchsgruppen souveräner zu kommunizieren (32.7 %).

Gross ist auch der wahrgenommene Praxisbezug: Die Teilnehmenden hatten mehrheitlich den Eindruck, dass die im Ethik-Café behandelten Themen einen direkten Bezug zum Arbeitsalltag hatten und das Gelernte dort auch gewinnbringend angewandt werden konnte. Somit scheint eine weitere Grunderwartung an die Ethik-Cafés bestätigt zu sein.

Fazit

Fort- und Weiterbildungsangebote zu ethischen Themen werden sicher immer noch unterschätzt und spielen häufig eine untergeordnete Rolle in den ethischen Strukturen von Gesundheitsinstitutionen. Durch regelmässige Veranstaltungen wird jedoch ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung ethischer Kompetenzen geleistet. Die Effekte der «Ethik-Cafés» müssten zukünftig sicherlich noch differenzierter betrachtet werden, dennoch sind die positiven Effekte auf die ethische Kompetenz der Teilnehmenden offensichtlich.

Hinzu kommt noch ein weiterer Punkt: Dadurch dass die Veranstaltungen interdisziplinär durchgeführt werden, besteht für die Pflegeinstitution die grosse Chance, dass schwierige Themen nicht nur aus verschiedenen, berufsspezifisch geprägten Blickwinkeln diskutiert werden, sondern auch, dass das Personal ein verstärktes gegenseitiges Verständnis entwickelt. Dies kann ein enormer Gewinn für die gesamte Betriebskultur sein.

Dr. phil. Marcel Maier
Leiter Schulungszentrum Gesundheit SGZ
marcel.maier@zuerich.ch
angebot.wissen-pflege-bildung.ch

 

Literaturhinweis / Originalartikel
Maier, M. & Kälin, S. (2016). Ethik-Cafés in der geriatrischen Langzeitpflege: halten sie, was sie versprechen? Über ihre wahrgenommene Wirkung beim Personal und die Effekte auf verschiedene Berufsgruppen; Ethik in der Medizin, Vol. 28(1), S. 43-55.

Kommentare: 1 | Autor: SGZ | Kategorien: Kategorie Pflege & Betreuung

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