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Das bedrohte «Selbst» bei Menschen mit Demenz

Das bedrohte «Selbst» bei Menschen mit Demenz

Text: Dr. Christoph Held

Ein bewusstseinsklarer Mensch hat die Gewissheit, individuell fühlen, denken und handeln zu können. Er ist in der Lage, sich selber sowie das Umfeld, in dem er sich befindet, zu betrachten und zu erleben. Durch ein funktionierendes Selbsterleben ist es möglich, dass man analysieren, reflektieren, Schlussfolgerungen machen und sich entscheiden kann.

Das Selbsterleben von Menschen mit Demenz verändert sich in gravierender Weise. In diesem Blogartikel wird Dr. Christoph Held über seine diesbezüglichen grossen Erfahrungen berichten. Er ist seit vielen Jahren als Dozent, Gerontopsychiater in Alters- und Pflegeinstitutionen und Autor von Fachbüchern und Erzählungen tätig.

 

Veränderungen des Gefühlslebens

Eine Demenz geht nicht nur mit Beeinträchtigungen der geistigen Fähigkeiten einher. Nicht selten – viele Jahre vor einem Nachlassen des Gedächtnisses – kommt es zu Veränderungen des Gefühlslebens. Die Betroffenen sind ängstlich, depressiv und verkennen Situationen und Personen. Sie wirken verändert, können jedoch die Veränderungen nicht selbst wahrnehmen. Daraus resultieren Spannungen, Missverständnisse oder gar Konflikte zwischen den Betroffenen und ihrem Umfeld.

In frühen Phasen der Erkrankung werden also typische Symptome wie Vergesslichkeit von den Betroffenen selbst oft nicht oder nur teilweise wahrgenommen. Die persönliche Bewusstheit über das eigene Kranksein oder des Verändertseins fehlt. Über weite Stecken herrscht deshalb eine gewisse Ahnungslosigkeit über sich selbst.

 

«Ich bin nicht mehr ich …»

In späteren Phasen der Demenz machen Betroffene beispielsweise folgende Aussagen: «Ich bin nicht mehr ich», «Etwas in mir ist anders», «Ich weiss nicht mehr, wer ich bin und was ich will». Gleichzeitig verirren und verlieren sie sich in ihrer eigenen Biografie (falsche oder fehlende autobiografische Zusammenhänge). Ihre Handlungen wirken über weite Strecken für uns ziellos. Sie verlieren die Gewissheit über sich selber, weil ihnen das Wissen über sich abhanden kommt.

Betroffene erleben ihren Zustand häufig als wechselhaftes Geschehen, bei dem das Gehirn vorübergehend seine integrativen Fähigkeiten verlieren kann. Fühlen, denken und handeln können in solchen Momenten nicht mehr miteinander verbunden werden und neue Herausforderungen können nicht mehr mit Erfahrung verknüpft werden. Solche Veränderungen führen zu einem verletzlichen und bedrohten Selbsterleben, das mit Wahn, Halluzination und Gefühlen der Angst und einer inneren Verlorenheit verbunden sein kann.

 

Erstarrt und in sich versunken

In der Spätphase der Erkrankung wirken Menschen mit Demenz in sich versunken, manchmal wie erstarrt. Sie beschäftigen sich mit sich wiederholenden, stereotypischen Handlungen. So ergreifen sie beispielsweise wahllos Gegenstände, streichen mit ihren Händen an Flächen entlang oder falten minutiös Papiere und Stoffe. Die verbale Kommunikation ist nur noch bedingt möglich. Sie wiederholen immer wieder dieselben Sätze oder rufen gar, ohne für uns ersichtlichen Grund und ohne eine Person direkt anzusprechen.

 

Hinweise für ein verändertes Selbsterleben

Wichtige Zeichen des veränderten Selbsterlebens sind zunehmende autobiografische Desorientierungen. Oder wenn man das Gefühl hat, dass der Betroffene in einer «eigenen Welt» lebt. In frühen Krankheitsphasen ist ein unsicherer oder gar stechender Blick vorhanden. Später ist dieser scheinbar leer und nicht zielgerichtet, nachfolgend sind im Wachzustand häufig die Augen geschlossen. Das Bewegungsmuster ist in der frühen Krankheitsphase häufig angespannt oder verkrampft. Bei fortschreitender Erkrankung sind ziellose Bewegungen und Stereotypen – bis hin zu einer verkrümmten, «embryonalen» Körperhaltung – zu beobachten.

 

Verändertem Selbsterleben konstruktiv begegnen

Es ist wichtig, dass die beschriebenen Veränderungen und daraus resultierende Gefühlslagen wie Angst, Unsicherheit, Verlorenheit, Spannung usw. vom Umfeld erkannt, erfasst und akzeptiert werden. Betroffene sehnen sich in ihrer Situation oft nach Eindeutigkeit, Gewissheit, Schutz und Geborgenheit. Es ist essenziell, dass sie dies erhalten. Bei der alltäglichen Kontaktaufnahme soll über Themen gesprochen werden, worüber Betroffene Bescheid wissen. Auch über Sichtbares, Hörbares und Fühlbares im Hier und Jetzt. Es ist auch wichtig, dass alltägliche Handlungen langsam und flexibel gestalten werden.

 

Das neue Buch von Dr. Christoph Held ist da!

In seinem neuen Buch «Bewohner» (Dörlemannverlag 2017) erzählt Dr. Held einfühlsam von Bewohnenden, die es so nicht gegeben hat, deren leidvolle Geschichten aber alles andere als erfunden sind. Als sehr geschätzter Dozent am SGZ wird er anlässlich unserer Veranstaltung «Zürcher Trendthemen Langzeitpflege» mit dem Schwerpunkt Gerontopsychiatrie in der Langzeitpflege vom 21. November 2017 eine Lesung aus seinem neuen Werk gestalten. Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung. Weitere Demenzfortbildungen finden Sie in unseren Kursausschreibungen.

 

Kontakt:
Beatrice Widmer
Schulungszentrum Gesundheit SGZ
Programmleiterin Bildung
beatrice.widmer@zuerich.ch
angebot.wissen-pflege-bildung.ch

Kommentare: 2 | Autor: SGZ | Kategorien: Kategorie Pflege & Betreuung

Kommentare zum Artikel

  1. Oesch Parsons Frieda Kommentar vom 16.09.2017

    Gerne melde ich mich an zur Veranstaltung mit Dr. Christoph Held. Ich durfte ihn zu Beginn seiner Laufbahn und Einsatz für Menschen mit dementieller Erkrankung kennenlernen.
    Freundliche Grüsse
    Frieda Oesch Parsons, Aktivierungstherapeution

    • SGZ Kommentar vom 16.09.2017

      Grüezi Frau Oesch Parsons

      Wir freuen uns, Sie an den «Zürcher Trendthemen Langzeitpflege» am 21. November 2017 persönlich kennenzulernen. Bitte melden Sie sich über das offizielle Anmeldeformular an.

      Freundliche Grüsse
      Schulungszentrum Gesundheit SGZ

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