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Holt die Ethik aus dem Elfenbeinturm!

Text: Dr. phil. Marcel Maier

Das Thema Ethik im Gesundheitswesen ist hip und trendy! Und das ist gut so! Sicher wird seit je her diskutiert und moralische Fragestellungen sorgsam abgewogen. Doch mittlerweile hat die organisierte und systematisierte Ethik auch in Einrichtungen der geriatrischen Langzeitpflege eine beachtliche Karriere hingelegt. Die Zahl der Betriebe mit ethischen Strukturen steigt von Jahr zu Jahr.

Massnahmen im Betrieb: Auf los geht´s los!

Zum Aufbau einer Ethikorganisation werden Projektaufträge geschnürt, um Budgets gerungen, Strukturen und Prozesse aufgegleist und eine entsprechende Kommission zusammengetrommelt. Am Tag X erfolgt dann der Roll-out, die lang konzipierte Ethikorganisation wird mit einem Kick-off lanciert. Nach monatelanger Planung, Bedarfsabklärungen, Fokusgruppeninterviews, Massnahmen in der Organisationsentwicklung, Tantiemen an die Beraterschaft und Anpassung der Quality Management-Dokumentation passiert es dann endlich …nämlich häufig nichts! Oder zumindest nicht allzu viel. Ethische Fragestellungen bleiben aus. Bevor es richtig anfängt, geht der Kommission die Arbeit auch schon wieder aus. Abteilungen müssen mit Nachdruck aufgefordert werden, die Ethikkommission endlich zu beliefern.

Wie ist das möglich? Gibt es plötzlich – welch Wunder – keine moralischen Problemstellungen mehr? Ist schon alles geklärt?

 

Ethischer Alltag im Pflegeheim

Um für dieses Phänomen eine Hypothese aufzustellen scheint es lohnenswert, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, mit welchen Fragestellungen sich eine Ethikkommission befasst – befassen sollte. Laut einer Studie der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) stehen bei Ethikkommissionen in geriatrischen Langzeitinstitutionen in der überwiegenden Mehrheit Fragen im Zusammenhang mit der Sterbehilfe im Vordergrund (86 %), gefolgt von Konflikten mit Angehörigen, Zwangsmassnahmen und Therapieabbruch (je 72 %).

Aber spiegelt dies den Alltag in Langzeitinstitutionen hinlänglich wider? Was macht dieses Setting aus ethischer Sicht so speziell und spannend?

Tatsächlich sind es in der Summe nicht die grossen Fragen um Leben und Tod, um lebensverlängernde Interventionen oder um freiheitsbeschränkende Massnahmen. Moralische Fragestellungen im Pflegeheim sind häufig im Kleinen verborgen. Es sind Fragen und Dilemmata des Alltags, die das zwischenmenschliche Zusammenleben und Zusammenarbeiten stören und irritieren.

Es sind Fragen,

  • ob die Cafeteria-Mitarbeiterin einer dementen Muslima ein Schinkensandwich verkaufen darf.
  • die der freiwillige Mitarbeiter stellt, wie das Personal mit verhaltensauffälligen Bewohnern umgehen soll, die andere beim Mittagessen stören.
  • wie viel körperliche Nähe durch die Bewohner akzeptiert werden muss.
  • ob man einen verhaltensauffälligen, dementen Bewohner mit «Du» ansprechend darf, wenn er nur noch darauf reagiert.
  • ob das Pflegeheim bezahlte Sexualität im Haus dulden oder gar unterstützen soll.
  • ob dem Essen wichtige Medikamente untergejubelt werden darf.

Diese Aufzählung liesse sich beliebig fortsetzen.

Und hier liegen zwei Dinge im Argen: Zum einen wird die vorliegende Problemstellung nicht als moralisch relevant erkannt. Zum zweiten werden die Problemstellungen manchmal bagatellisiert. «Dies ist kein Fall, womit sich das Ethikgremium beschäftigen muss. Die haben sicherlich besseres zu tun und sich um die wirklich wichtigen Dinge zu kümmern». Und vielleicht kommt auch etwas Angst und Unbehagen hinzu. Eine Ethikorganisation kann einschüchtern. Moralische Dilemmata anzusprechen braucht Mut und eine entsprechend offene Betriebskultur.

 

Was tun?

Die Konsequenz von all dem ist, dass eine Problemstellung nicht entsprechend behandelt wird. Die Ethikkommission wird nie davon erfahren … Deshalb sollte dringend frühzeitig an der ethischen Sensibilität gearbeitet werden. Vermeintlich triviale Fragestellungen müssen aufgegriffen, publik gemacht und auf der grossen Bühne diskutiert werden. Verschiedene Möglichkeiten stehen hier zur Verfügung. Beispielsweise die Durchführung von Ethik-Cafés oder ähnlich gelagerten Veranstaltungen und Weiterbildungsmassnahmen.

Und selbstverständlich – aber dies ist keine neue Erkenntnis – sollte dies auch interdisziplinär angegangen werden. Denn nochmals: Moralische Problemstellungen und Dilemmata entstehen vielfach aufgrund des Settings und sind Fragen des täglichen Zusammenlebens und -arbeitens. Und daran haben auch Hauswirtschaft, Verwaltung, Technischer Dienst, Verpflegung usw. ihren Anteil.

Deshalb: Holt die Ethik aus dem Elfenbeinturm und habt mehr Mut zur Trivialität!

Link Kursausschreibungen zum Thema Ethik

 

Dr. phil. Marcel Maier
Leiter Schulungszentrum Gesundheit SGZ
marcel.maier@zuerich.ch
angebot.wissen-pflege-bildung.ch

 

 

Kommentare: 5 | Autor: SGZ | Kategorien: Kategorie Pflege & Betreuung

Kommentare zum Artikel

  1. CarolinaL Kommentar vom 19.12.2017

    Es ist eh schon schwer genug jemanden für einen der vielen benötigten Pflege Jobs in der Schweiz zu begeistern. Da ist es fraglich ob ein Artikel wie dieser hilfreich ist

    • Lucia Zimmermann Kommentar vom 20.12.2017

      Danke für Ihren Kommentar. Natürlich bringen ethische Diskussionen nicht auf direktem Weg mehr qualifiziertes Personal in die Heime.
      Aber ethische Sensibilität und die Diskussionen über alltägliche ethische Fragestellungen sind ein wichtiger Beitrag zu einer qualitativ hochstehenden Pflege und Betreuung, die auch gesellschaftliches Ansehen gewinnt.
      Und das könnte vielleicht den einen oder die andere verführen, in diesem spannenden Feld tätig zu werden.
      In diesem Sinne macht es vielleicht Sinn, was meinen Sie?

  2. Amanusi Hannah Abu Kommentar vom 14.02.2018

    Bin in das WB interessiert aber weiss nicht ob sie noch freie Platz hat.

    • SGZ Kommentar vom 16.02.2018

      Grüezi

      Herzlichen Dank für Ihr Interesse an unseren Bildungsangeboten zum Thema Transkulturalität. Wir bieten dazu im Moment 4 Module an:

    • – Modul 1: Kultur in uns und um uns
    • – Modul 2: Die Schweiz früher und heute
    • – Modul 3: Arbeiten in der Schweiz»
    • – Modul 4: Kulturelle Überschneidungssituationen erkennen und handeln
    • Der Link zu den Kursausschreibungen veröffentlichen wir gerne an dieser Stelle nochmals:
      http://angebot.wissen-pflege-bildung.ch/?keyword=transkultur

      Haben Sie noch Fragen? Wir sind gerne für Sie da.

      Freundliche Grüsse
      Schulungszentrum Gesundheit SGZ

  • IFSK GmbH Nievergelt Hansueli Kommentar vom 07.03.2020

    Sehr geehrte Damen und Herren
    Meine Anfrage geht dahin, dass im Moment das BAG bei der Coronavirus die Pflegeheime und Spitäler anweist-empfiehlt, die Besucherzahl auf zwei Personen pro Patient und Besuch, zu reduzieren und Kinder das Besuchsrecht zu 100 % verweigert. Dass nun aber Pflegeheime ein völliges, also rigoroses Besuchsrecht gegenüber den Heim und Pflegebewohner verhängt, geht meines Erachtens aus ethischen Überlegungen nicht, denn die Bewohner werden nur vordergründig geschützt. Dass Pflegepersonal geht nach Hause und kommt wieder. Die Bewohner die noch Mobil sind können von den Besuchern abgeholt werden. Sollte dies nicht der Fall sein wäre dies Freiheitsberaubung. Kein Besuch bedeutet für die älteren Personen, erstens Einschränkung des freien Willens und zweitens Isolierung und trägt nicht für den Prozess des Älterwerdens bei-Altersdiskriminierung und ist daher meines Erachtens aus ethischer Sicht abzulehnen. Was meinen sie als Ethiker. Hansueli Nievergelt

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