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Herausfordernde Situation gemeinsam meistern

Text: Beatrice Widmer

Stellen Sie sich vor, Sie leisten Nachtdienst. Es ist morgens um vier. Sie werden von einer Pflegeperson, die auf einer anderen Abteilung tätig ist, zur Unterstützung angefordert. Diese berichtet Ihnen, dass ein Bewohnender sich auf dem Flur aufhalte, der sie daran hindere, an ihm vorbei zu gehen und sie in unzumutbarer Weise beschimpfe. Sobald sie sich ihm nähere, schlage er wild um sich. Als Sie auf der Abteilung erscheinen, spuckt er Ihrer Kollegin gerade ins Gesicht. Sie versuchen gemeinsam den Bewohnenden zu beruhigen, doch die Situation entschärft sich nicht. Hilflosigkeit und Ohnmacht, aber auch Ungeduld nehmen Überhand.

 

Die Enttabuisierung von Aggression beginnt erst!

Es ist allgemein bekannt, dass Aggression eine Schutzreaktion ist und in ganz bestimmten Situationen (meist im Affekt) geschieht. Auch dass internistische, neurologische und psychiatrische Störungen sowie medikamentöse Therapien herausfordernde bis hin zu aggressive Verhaltensweisen begünstigen oder auslösen können.

Trotz dieser bekannten Fakten ist die Endtabuisierung des heiklen Themas «Aggressionen im Gesundheitswesen» noch nicht erreicht. Dennoch ist da die Null-Toleranz anzustreben. Dazu brauchen die Mitarbeitenden Handlungsinstrumente zur Prävention und Deeskalation.

 

Null-Toleranz und gelebtes Aggressionsmanagement

Null-Toleranz bedeutet: Die innerbetriebliche Enttabuisierung von auftretenden Aggressionen. Sämtliche Vorkommnisse sollen transparent gemacht, umsichtig begleitet und evaluiert werden. Risikofaktoren erkennen und minimieren sowie Präventionsmassnahmen ergreifen gehören ebenso zum gelebten Aggressionsmanagement.

 

Ein Beispiel aus der Praxis

Das Pflegezentrum Gehrenholz in Zürich hat sich für den oben beschriebenen Weg entschieden. Seit letztem Jahr finden für alle Mitarbeitenden verbindliche Fortbildungseinheiten in Aggressionsmanagement statt. Diese werden organisiert durch das Schulungszentrum Gesundheit SGZ. Geleitet und gestaltet werden sie durch das erfahrene Aggressionstrainerteam Dorothea Fiechter und Tieni Moser (Vizepräsidentin und Präsident Verein Netzwerk Aggressionsmanagement im Gesundheits- und Sozialwesen NAGS).

Nach jeder abgeschlossenen Bildungssequenz findet ein interdisziplinäres Round-Table Gespräch statt. Dabei steht unter anderem die Praxisumsetzung der Bildungsinhalte im Zentrum. Mir war es möglich, an einem Austausch dabei zu sein, um aufzuzeigen, wie die innerbetriebliche Umsetzung von gelebtem Aggressionsmanagement erzielt wird. Dabei wurden folgende Feststellungen gemacht: Der hohe Praxisbezug wurde allseits geschätzt und als sehr wichtig für den Transfer in den Arbeitsalltag erachtet. Die Teilnehmenden fanden einhellig: Was nicht fast jeden Tag aufs Neue erprobt werden kann, etabliert sich nicht.

Ganz besonders bewährt haben sich deeskalierende Kommunikationsstrategien. Dies im Sinne von klarem Auftreten und dementsprechender Herangehensweise. So wird beispielsweise bei einem aggressionsbehafteten Auftreten folgendermassen reagiert: «Stopp, was isch?» in einem weiteren Schritt wird der Person die Verhaltensweise gespiegelt, die dem Umfeld entgegenkommt.

Die Teilnehmenden sind sich einig, dass die Sensibilität auf herausforderndes Verhalten bis hin zu Aggression sichtlich gestiegen ist. Und zwar innerhalb der gesamten Institution. So sagen sie: «Wird lautes Rufen oder Schreien wahrgenommen, so fühlen sich die Mitarbeitenden abteilungsübergreifend zuständig, diesem Geschehen nachzugehen. Das Wohlergehen aller steht im Zentrum und nicht nur der eigenen Arbeitsumgebung.» In kritischen Situationen unterstützend da zu sein, ist zur Normalität geworden.

Es wurde festgehalten, dass die Aufarbeitung der hauseigenen Vorkommnisse im Unterricht  für die multiprofessionelle Zusammenarbeit enorm unterstützend gewesen sei. Dabei wurden Synergien entdeckt, im Sinne von Zusammenhalt, bei der gemeinsamen Bewältigung von komplexen Aufgaben. Ferner erfordere diese Fortbildung auch eine Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit sich selber. Denn man komme sich und anderen, bedingt durch die Thematik, sehr nahe.

 

Ein Blick in die Zukunft

Das Projekt Aggressionsmanagement wird sich im Pflegezentrum Gehrenholz weiter etablieren und entwickeln. Zur Diskussion steht, dass regelmässig Fallbesprechungen im multiprofessionellen Rahmen durchgeführt werden. Dazu können bei Bedarf auch externe Experten und Expertinnen beigezogen werden. Im Weiteren ist es denkbar, dass auf den Betrieb zugeschnittene Refreshings der Bildungsinhalte erfolgen werden.

 

Kurse zu diesem Thema am SGZ

 

Beatrice Widmer
Schulungszentrum Gesundheit SGZ
Programmleiterin Bildung
beatrice.widmer@zuerich.ch
angebot.wissen-pflege-bildung.ch

Kommentare: 2 | Autor: SGZ | Kategorien: Kategorie Pflege & Betreuung

Kommentare zum Artikel

  1. Bruno Schiess Kommentar vom 14.06.2018

    Ich denke, das Umgehen mit Aggression ist gut zu schulen und zu üben. Voraussetzung ist auch, dass ich mir bewusst werde, dass wir alle Aggressionen haben, aber unterschiedlich damit umgehen. Welche Strategie wir entwickeln (Salutogenese. In meinem Modul weise ich immer daraufhin, dass es Kurse für Aggressionsmanagement gibt. Es wäre nicht möglich das alles in einem Modul zu bearbeiten. Wenn bei einer Gruppenarbeit das ein Thema ist, stelle ich immer die Frage, welche Lösungsmöglichkeiten haben wir. Wichtig ist mir auch, dass es benannt, beschrieben und darüber gesprochen wird.

    • Beatrice Widmer Kommentar vom 18.06.2018

      Lieber Bruno

      Herzlichen Dank für deinen Kommentar. Es ist sicherlich so, dass alle Menschen Aggressionen empfinden können. Etwas Wesentliches ist es auch für mich, sich dies einzugestehen und sich mit eigenen Verhaltensmustern auseinanderzusetzen. Da pflichte ich dir sehr bei.
      Bei der Konfrontation mit Aggressionspotenzial im Arbeitsumfeld muss eine betriebliche Grundhaltung, im Sinne von “Null-Toleranz” vorhanden sein. Parallel dazu sind entsprechende Fortbildungen eine unverzichtbare Stütze.

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