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Ethische Dilemma-Situationen in der Spitex im Zusammenhang mit Demenz (1)

Text: Beatrice Widmer

Teil 1: «Alltagsethik in der spitalexternen Versorgung» – ein ethisches Entscheidungsfindungsmodell wird entwickelt!

Im Jahre 2012 publizierte das Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel das Manual «METAP – Ethische Probleme analysieren und Lösungsstrategien für die Klinik finden». METAP (steht für die Schlüsselwörter Modular, Ethik, Therapieentscheide, Allokation, Prozess) ist ein Instrument für medizinische, pflegerische und therapeutische Mitarbeitende. Es dient hauptsächlich zur Unterstützung von ethisch angemessenen Entscheidungsfindungen und Massnahmen im Umgang mit komplexen Pflege- und Betreuungssituationen.

Nun ist eine spitex-spezifische Erweiterung, ebenfalls in Form eines Handbuchs, in der Erarbeitungsphase. Unter der Projektleitung von Dr. phil. Heidi Albisser Schlegel und Dr. med. Barbara Meyer-Zehnder wird ein praxistaugliches Entscheidungsfindungsinstrument entwickelt, implementiert und evaluiert.

Dazu werden Kooperationspartner und externe Experten hinzugezogen, die das Projektteam methodisch und inhaltlich beraten. Ferner verfassen Expertinnen und Experten aus der Praxis typische spitex-spezifische Problembereiche, in denen ethische Entscheidungsfindungen sehr unterstützend sein können. Dies namentlich für Palliativsituationen und bei Menschen mit psychischen oder demenziellen Erkrankungen.

Ende 2015 haben mich die Projektleiterinnen für einen Bericht über die spitex-spezifischen Problembereiche im Zusammenhang mit Demenz angefragt, den ich gerne verfasst habe. An dieser Stelle erfolgt nun eine Zusammenfassung meines für das Manual eingereichten Textes, die in zwei Teilen erscheinen wird.

 

Spitex-spezifische Problembereiche im Umgang mit Menschen mit Demenz

Immer mehr Menschen mit Demenz sind völlig auf sich gestellt …

In einem früheren Blogbeitrag habe ich bereits auf diese Problematik hingewiesen (siehe http://wissen-pflege-bildung.ch/2015/11/menschen-mit-demenz-zu-hause-betreuen-eine-anspruchsvolle-aufgabe/).

In der Stadt Zürich haben Erhebungen aus dem Jahre 2013 von Hausbesuche SiL (einer zugehenden Demenzabklärung und Demenzberatung in der Stadt Zürich) aufgezeigt, dass 62 % aller Demenzbetroffenen alleine leben. Es ist durchaus denkbar, dass auch ausserhalb der Stadt Zürich solche Tendenzen vorliegen oder sich in absehbarer Zeit entwickeln werden. Teilweise erhalten diese Betroffenen Unterstützung durch das familiäre und soziale Umfeld. Hier ist auch eher gewährleistet, dass professionelle Hilfe von aussen angefordert wird. Leider ist aber eine Vielzahl von Betroffenen ganz auf sich gestellt. Die Gefahr, dass gerade in solchen Situationen nicht rechtzeitig unterstützende Massnahmen zur Erhaltung der Lebensqualität eingeleitet werden können, ist gross.

Spitex-Mitarbeitende haben gerade bei alleine lebenden Menschen mit Demenz, die ohne familiäres oder soziales Umfeld zurechtkommen müssen, eine zentrale Rolle. In minutiöser Feinstarbeit müssen sie – völlig auf sich gestellt – Bedürfnisse, Ressourcen, aber auch Defizite erkennen und akzeptieren sowie die notwendige und meist schon umfassende Betreuung organisieren und leisten. Dabei stehen nicht ausschliesslich pflegerische Leistungen wie Grund- und Behandlungspflege im Vordergrund. Vor allem die Kontaktaufnahme und der Vertrauensaufbau sowie das Vermitteln von Sicherheit stehen genau in solchen Situationen überwiegend im Zentrum. Das Dilemma besteht nun darin, dass die Mitarbeitenden in solchen Situationen vor allem Leistungen erbringen, die sich innerhalb eines noch nicht ausreichend geklärten Gebiets der Kostenübernahme bewegen.

«Wer sind Sie? Waaas von der Spitex?! Ich habe Sie nicht gebeten, zu mir zu kommen! Gehen Sie, ich brauche Sie nicht!»

Im Kontext mit Demenz sind professionelle Helfende immer wieder mit Widerständen verschiedenster Art konfrontiert. Nicht selten muss ein Arbeitsbündnis zwischen Klienten und Mitarbeitenden (teilweise hart) erarbeiten werden. Aufgrund der Anosognosie und anderen kognitiven Symptomen sind Betroffene nicht in der Lage, ihre Situation real zu erfassen und entsprechende Hilfestellungen anzuerkennen. Sie wirken nach aussen uneinsichtig, stur und unzugänglich. Somit ist es also erst nach einer gewissen Zeit überhaupt erst möglich, sich näher kennenzulernen, um schlussendlich den Kontakt zu intensivieren und eine Vertrauensbeziehung aufzubauen. Erst wenn dies geschehen ist, können pflegerische oder hauswirtschaftliche Leistungen umgesetzt werden.

Widerstände (z. B. Pflegeverweigerung) und Rückweisungen (man wird nicht akzeptiert) sind im Umgang mit Menschen mit Demenz generell ein alltägliches Dauerthema. Sie dürfen nicht als persönliches Versagen betrachtet werden. Dies ist jedoch leichter gesagt als getan! Aufgrund von Widerständen können die in der Pflegeplanung vorgesehenen Aufgaben unter Umständen nicht, oder nur teilweise erfüllt werden. Je nach kognitiver Verfassung und der damit verbundenen emotionalen Befindlichkeit der betroffenen Person werden für das Personal plötzlich andere Aufgaben prioritär. Mitunter setzten sich Mitarbeitende genau deshalb unter Druck. Sie haben das Gefühl keinen guten Job gemacht zu haben, weil sie zu sehr auf die formal definierten Aufgaben fokussiert sind.

Demnach kann im Einsatz bei Menschen mit Demenz nicht davon ausgegangen werden, dass die in der Pflege- und Betreuungsplanung aufgeführte Massnahmen unisono umgesetzt werden können, wie sie definiert worden sind. Dieses Bewusstsein sollte sich noch stärker etablieren, damit moralische Dilemmas, wie sie oben genannt worden sind, reduziert werden.

Ein erweitertes Auftragsverständnis sowie Achtsamkeit in allen Lebensbereichen sind Ziele bei der Betreuung von Menschen mit Demenz. Ferner ist ein erhöhter Aufwand durch Einbeziehen, Besprechen und Vernetzen gefordert. Die Bereitschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit sowie eine offene Teamkultur sind dafür Grundvoraussetzung.

Die Situation ist bald nicht mehr tragbar … die Spitex wirds schon richten!

Eine zentrale Wertvorstellung vieler Menschen ist die Wahrung der Autonomie, die im Zusammenhang mit einer demenziellen Erkrankung gefährdet ist. Ein zunehmender Verlust der Selbstständigkeit, der Urteils- und Entscheidungsfähigkeit gehört zum Krankheitsverlauf. Wahrscheinlich ist dies ein gewichtiger Grund für die gesellschaftliche Tabuisierung von Demenz, die schwerwiegende Konsequenzen mit sich ziehen kann. Es sind noch vielschichtige Massnahmen nötig, um diesem Problem entgegen zu treten. Leider verzögert sich somit die dringend notwendige professionelle Unterstützung für Betroffene, damit sie ihr Leben weiterhin zu Hause meistern können.

Nicht selten wird erst zu einem späten Zeitpunkt die Spitex avisiert, wenn die Situation sehr instabil ist. Die Erwartungen von aussen an die Spitex-Organisation sind dann meist nicht realistisch. Es soll «sofort» eine Stabilisation der entgleisten Situation erfolgen. Die demenzielle Person soll quasi von einem Moment auf den anderen mit ihr unvertrauten Personen «kooperieren». Sie soll regelmässig Medikamente einnehmen, Hilfe bei der Körperpflege zulassen, sich die Wohnung aufräumen lassen etc.

In einer solchen Situation ist ein Kontakt- und Vertrauensaufbau absolut vordergründig, was meist ausser Acht gelassen wird. Auch dass die Mitarbeitenden Kenntnisse zur Biografie und Lebensgewohnheiten der Betroffen brauchen, um einen Kontakt- und Vertrauenaufbau herzustellen, wird zu wenig berücksichtigt. Oder dass eine Diagnosestellung für die Spitex-Mitarbeitenden sehr hilfreich wäre, um Klarheit betreffend Verhaltensauffälligkeiten zu erhalten, um adäquate milieu-therapeutische Strategien zu entwickeln; ferner um sinngebende Entlastungsangebote, zusätzlich zur Spitex, zu organisieren. Aber auch, um den richtigen Zeitpunkt für einen Heimeintritt zu prüfen und die betroffene Person rechtzeitig und schrittweise darauf vorzubereiten.

Demenz ist ein gesellschaftsrelevantes Thema. Das heisst, Familie, Freunde und andere sollen auf die Thematik sensibilisiert sein. Neuropsychologische Abklärungen schaffen Klarheit und sind gewinnbringend für alle Beteiligten. Betroffenen erhalten so frühzeitig die nötige Unterstützung und können sie auch besser akzeptieren. Angehörige bekommen frühzeitig Entlastung und haben professionelle Helfende zur Seite, welche die Situation (mit-) koordinieren. Der Begriff «Autonomie» im Zusammenhang mit Demenz ist anders zu gewichten. Betroffene sollen im Alltag gemäss aktueller Verfassung mitentscheiden können, aber von Entscheidungen befreit werden, die sie überfordern und belasten.

**Ende 1. Teil**

 

Beatrice Widmer
Schulungszentrum Gesundheit SGZ
Programmleiterin Bildung
beatrice.widmer@zuerich.ch
angebot.wissen-pflege-bildung.ch

Ende März 2016 erscheint der 2. Teil über die ethischen Dilemma-Situationen in der Spitex.

Das SGZ bietet zu diesem Thema fundierte Demenz-Fortbildungen für die Spitex-Mitarbeitenden an. Detaillierte Informationen dazu finden Sie unter:

Kommentare: 1 | Autor: SGZ | Kategorien: Kategorie Arbeitsfeld Spitex

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